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Nach Dem Sommer

Nach Dem Sommer

Titel: Nach Dem Sommer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Maggie Stiefvater
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erklärst mir die Lage«, korrigierte ich sie und spannte meine Muskeln an, damit ich nicht zitterte. Ob es an den Nerven lag oder an der Kälte, konnte ich nicht sagen.
    »Ja«, erwiderte Grace. Sie schaltete die Scheinwerfer aus. »Genau. Bin gleich wieder da.«
    Ich beobachtete, wie sie ins Haus rannte, und rutschte auf meinem Sitz etwas tiefer. Ich konnte kaum glauben, dass ich mich mitten in der Nacht in eisiger Kälte hier draußen in einem Auto versteckte und darauf wartete, dass ein Mädchen aus dem Haus gerannt kam und mir sagte, dass die Luft rein sei und wir jetzt in ihrem Zimmer schlafen gehen könnten. Und zwar nicht irgendein Mädchen. Das Mädchen. Grace.
    Sie erschien wieder in der Haustür und gestikulierte umständlich
    in meine Richtung. Es dauerte einen Moment, bis ich verstanden hatte, dass ich den Motor abstellen und ins Haus kommen sollte. Fügsam glitt ich so schnell wie möglich aus dem Wagen, dann huschte ich die Stufen hinauf bis in den Flur. Die Kälte biss mir in die bloße Haut. Ohne mich zu Atem kommen zu lassen, gab Grace mir einen Schubs und beförderte mich den Flur hinunter. Unterdessen schloss sie die Tür und lief dann in Richtung Küche.
    »Ich hatte meinen Rucksack vergessen«, verkündete sie laut im Zimmer nebenan.
    Im Schutz ihrer Unterhaltung schlich ich in Grace' Zimmer und zog leise die Tür hinter mir zu. Im Haus war es gut zwanzig Grad wärmer und dafür war ich sehr dankbar. Meine Muskeln zitterten noch immer von der kurzen Zeit, die ich draußen gewesen war; ich hasste dieses Zwischendringefühl.
    Ich war erschöpft von der Kälte und ich wusste nicht, wie lange Grace bei ihren Eltern im Wohnzimmer bleiben würde, also kletterte ich ins Bett, ohne das Licht einzuschalten. So saß ich in der Dunkelheit, in die Kissen zurückgelehnt, und massierte meine eingefrorenen Zehen, um sie wieder zum Leben zu erwecken. Durch den Flur hörte ich gedämpft Grace' Stimme. Sie und ihre Mutter plauderten fröhlich über die Liebeskomödie, die gerade im Fernsehen lief. Mir war schon aufgefallen, dass es Grace und ihren Eltern nicht schwerfiel, sich über unwichtige Dinge zu unterhalten. Es war, als könnten sie miteinander endlos über kleine Albernheiten lachen, doch ich hatte noch nie mitbekommen, dass sie über ernstere Dinge redeten.
    All das erschien mir so fremd, denn ich war ja die Gesellschaft des Rudels gewohnt. Seit dem Tag, an dem Beck sich meiner angenommen hatte, war ich von einer Familie umgeben gewesen - manchmal wurde es mir fast zu viel - und Beck hatte mir stets seine ungeteilte
    Aufmerksamkeit geschenkt, wenn ich sie wollte. Ich hatte das als selbstverständlich hingenommen, jetzt aber fühlte ich mich regelrecht verwöhnt.
    Ich saß noch immer aufrecht im Bett, als leise der Türknauf herumgedreht wurde. Ich erstarrte und blieb reglos sitzen, dann hörte ich Grace' Atem und seufzte erleichtert auf. Sie schloss die Tür hinter sich und wandte sich zum Fenster.
    Im dämmrigen Licht sah ich kurz ihre Zähne aufblitzen. »Bist du hier?«, flüsterte sie.
    »Wo sind denn deine Eltern? Meinst du, sie kommen gleich rein und erschießen mich?«
    Grace sagte nichts. In der Dunkelheit, wenn sie nichts sagte, war sie für mich unsichtbar.
    Ich wollte etwas sagen, um den seltsam unbehaglichen Moment zu überbrücken, als Grace entgegnete: »Nein, sie sind oben. Dad muss für Mom Modell sitzen.« Bei dem Wort »Dad« wurde ihre Stimme kurz schärfer, doch ich konnte mir nicht erklären, warum. »Du kannst dir also ganz in Ruhe die Zähne putzen gehen und so. Aber mach schnell. Sing einfach ein bisschen piepsig vor dich hin, dann denken sie, ich bin es.«
    »Vollkommen atonal, meinst du«, korrigierte ich sie.
    Grace kniff mir in den Hintern, als sie an mir vorbei zum Kleiderschrank ging. »Geh einfach.«
    Ich ließ meine Schuhe in ihrem Zimmer und ging auf Zehenspitzen den Flur entlang zum unteren Badezimmer. Es gab keine Badewanne, sondern nur eine Dusche, wofür ich ziemlich dankbar war, und Grace hatte außerdem den Vorhang so fest davor zugezogen, dass ich noch nicht einmal hineinsehen musste.
    Ich putzte mir die Zähne mit ihrer Zahnbürste. Da stand ich, ein schlaksiger Teenager in einem riesigen grünen T-Shirt, das sie von ihrem Vater geborgt hatte, und betrachtete meine dunklen Haare und gelben Augen im Spiegel. Was machst du da eigentlich Sam?
    Wie um das Gelb zu verbergen, schloss ich die Augen, die, auch wenn ich ein Mensch war, so wölfisch wirkten - als würde das

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