Nach Dem Sommer
gesehen?«
Rachel drehte sich zu mir um. »Hm?«
»Olivia. Hast du nicht mit ihr zusammen Bio?«
Sie zuckte mit den Schultern. »Ich hab seit Freitag nichts mehr von ihr gehört. Hab versucht, sie anzurufen, aber ihre Mom hat gesagt, sie sei krank. Aber was ist eigentlich mit dir, mein Hase? Wo warst du am Wochenende? Du rufst nicht an, du schreibst nicht.«
»Mich hat ein Waschbär gebissen«, antwortete ich. »Ich musste mich gegen Tollwut impfen lassen und hab mich dann am Sonntag davon ausgeruht. Um sicherzugehen, dass ich mich nicht doch mit Schaum vorm Mund auf andere Leute stürze.«
»Krass. Wo hat er dich denn gebissen?«
Ich deutete auf meine Jeans. »Am Knöchel. Sieht auch nicht nach viel aus. Aber ich mache mir langsam echt Sorgen um Olive. Ich hab sie am Telefon nicht erreicht.«
Rachel runzelte die Stirn und schlug die Beine übereinander; sie trug wie immer etwas Gestreiftes, diesmal war es die Strumpfhose. »Ich auch nicht«, erwiderte sie. »Meinst du, sie geht uns aus dem Weg? Ist sie immer noch sauer auf dich?«
Ich schüttelte den Kopf. »Ich glaube nicht.«
Rachel verzog das Gesicht. »Aber zwischen uns ist doch alles in Ordnung, oder? Ich meine, wir haben schon so lange nicht mehr geredet. Über alles Mögliche, meine ich. Ist ja gerade viel los. Aber wir haben schon lange nicht mehr - du weißt schon, geredet halt. Und uns verabredet und so.«
»Alles in Ordnung«, erwiderte ich steif.
Sie kratzte sich an ihrem Regenbogenbein und biss sich auf die Lippe, dann sagte sie: »Meinst du, wir sollten ... na ja, sollten wir wohl mal bei ihr zu Hause vorbeischauen und sehen, ob wir sie erwischen?«
Ich antwortete nicht sofort und sie drängte mich auch nicht. Das war für uns beide Neuland: Wir hatten einfach nie viel dafür tun müssen, um unser Trio beieinanderzuhalten. Ich wusste nicht, ob es richtig war, Olivia nachzuspionieren oder nicht. Irgendwie schien das so drastisch, aber wie lange war es jetzt auch schon her, dass wir sie gesehen oder mit ihr gesprochen hatten?
»Wie wär's, wenn wir noch bis Ende der Woche warten?«, schlug ich schließlich vor. »Und wenn wir dann immer noch nichts von ihr gehört haben, dann ...«
Rachel nickte, sie wirkte erleichtert. »Supi.«
Sie drehte sich wieder auf ihrem Platz um, als sich vorne Mr Rink räusperte, um auf sich aufmerksam zu machen. »Okay, Leute«, begann er. »Ihr werdet das heute wahrscheinlich noch öfter von den Lehrern zu hören bekommen, aber seht einfach zu, dass ihr nicht die Trinkwasserspender ableckt oder wildfremde Leute küsst, ja?
Das Gesundheitsamt hat nämlich ein paar Meningitisfälle in der Umgebung hier gemeldet. Und das überträgt sich durch - na, weiß es jemand? Rotz! Schleim! Küssen und Lecken! Also lasst das einfach sein.«
In den hinteren Reihen erhob sich beifälliges Gejohle.
»Tja, und da ihr das ja nun alles nicht mehr dürft, machen wir jetzt was, was fast genauso viel Spaß macht. Sozialkunde! Schlagt eure Bücher auf Seite 112 auf.«
Ich sah zum tausendsten Mal zur Tür, in der Hoffnung, Olivia hereinkommen zu sehen, und schlug mein Buch auf.
In der Mittagspause rief ich bei Olivia zu Hause an. Es klingelte zwölfmal, dann ging der Anrufbeantworter ran. Ich hinterließ keine Nachricht; wenn sie einen anderen Grund hatte zu schwänzen, als krank zu sein, dann wollte ich nicht, dass ihre Mutter die Nachricht hörte, in der ich fragte, warum sie nicht in der Schule war. Ich wollte gerade meinen Spind zuschließen, als ich bemerkte, dass der Reißverschluss einer kleinen Außentasche an meinem Rucksack ein Stück offen stand. Ein Blatt Papier mit meinem Namen drauf guckte heraus. Ich faltete es auseinander und meine Wangen fühlten sich plötzlich warm an, als ich Sams krakelige Handschrift erkannte.
»Immer wieder, ob wir der Liebe Landschaft auch kennen und den kleinen Kirchhof mit seinen klagenden Namen und die furchtbar verschweigende Schlucht, in welcher die anderen
enden: immer wieder gehn wir zu zweien hinaus unter die alten Bäume, lagern uns immer wieder zwischen die Blumen, gegenüber dem Himmel.«
Das ist Rilke. Ich wünschte, ich hätte es für dich geschrieben.
Ich verstand nicht alles, aber ich las es mir flüsternd vor und dachte dabei an Sam. Die Wörter wurden auf meiner Zunge zu etwas Wunderschönem. Ich fühlte, wie ich zu lächeln begann, auch wenn gar keiner in meiner Nähe war, der es hätte sehen können. Meine Sorgen waren noch immer da, aber in diesem Augenblick
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