Nach Dem Sommer
lange auf.«
Mit einem sanften Klicken fiel die Tür hinter ihm zu. Grace starrte auf die Bücherregale, den Schreibtisch, dann zur geschlossenen Tür. Sie sah überall hin, nur nicht in mein Gesicht.
Ohne mir die Seite zu merken, schlug ich das Buch zu. »Sie ist nicht tot.«
»Vielleicht hat Mom ja doch bei der Forstverwaltung angerufen«, sagte Grace zum Schreibtisch.
»Hat sie nicht. Shelby ist am Leben.«
»Sam, sei still. Bitte. Das wissen wir doch gar nicht. Einer der anderen Wölfe könnte ihre Leiche geholt haben. Zieh keine voreiligen Schlüsse.« Schließlich sah sie zu mir hoch, und mir wurde klar, dass Grace, obwohl sie eine wahnsinnig schlechte Menschenkennerin war, verstanden hatte, was Shelby für mich bedeutete. Sie war meine Vergangenheit, die ihre Krallen nach mir ausstreckte und versuchte, mich einzufangen, noch bevor der Winter es tat. Ich fühlte mich, als ob sich alles von mir wegbewegte. Ich hatte das Paradies entdeckt und mich daran geklammert, so fest es ging, doch es löste sich immer weiter auf, ein feiner Faden, der mir durch die Finger glitt, zu dünn, um ihn festzuhalten.
Kapitel 40 - Sam (14°C)
A lso suchte ich nach ihnen.
Jeden Tag wenn Grace in der Schule war, suchte ich nach ihnen, den beiden Wölfen, denen ich nicht vertraute, die für tot gehalten wurden. Mercy Falls war klein. Der Boundary Wood war nicht genauso klein, aber ich kannte ihn besser. Und er schien bereitwilliger, mir seine Geheimnisse preiszugeben.
Ich würde Shelby und Jack finden und ich würde das auf meine Weise mit ihnen regeln.
Doch Shelby hatte keine Spur hinterlassen, die von der Veranda wegführte, also war sie vielleicht wirklich fort. Und Jack witterte ich auch nirgends - nur eine tote, kalte Spur. Ein Geist, der keinen Körper zurückgelassen hatte. Es kam mir vor, als hätte ich schon die ganze Gegend nach Zeichen von ihm durchkämmt.
Ich dachte - und hegte die leise Hoffnung -, dass er vielleicht auch gestorben sein könnte und nun kein Problem mehr darstellte. Von einem Bus überfahren und irgendwo auf eine Müllkippe geworfen. Aber an keiner Straße ließen sich Spuren entdecken, es gab keine Duftmarken an Bäumen und auch auf dem Schulparkplatz keine Duftspur von einem neuen Wolf. Er war so spurlos verschwunden wie Schnee im Sommer.
Ich hätte froh darüber sein sollen. Sein Verschwinden sprach von Zurückhaltung, von mehr Klugheit, als ihm zuzutrauen gewesen
war. Wenn er verschwunden war, bedeutete das, dass er nicht mehr mein Problem war.
Aber ich konnte mich einfach nicht damit zufriedengeben. Wir Wölfe taten so einiges: Wir verwandelten uns, versteckten uns, sangen unter einem blassen, einsamen Mond - aber nie verschwanden wir ganz. Menschen verschwanden. Menschen machten uns zu Ungeheuern.
Kapitel 41 - Grace (12°C)
S am und ich waren wie die Pferde auf einem Kinderkarussell.
Unsere Tage verliefen immer nach demselben Muster - Zuhause, Schule, Zuhause, Schule, Buchladen, Zuhause, Schule, Zuhause und immer so weiter -, und dabei war es, als schlichen wir immer um das eine große Thema herum, ohne es jemals anzusprechen. Die Wurzel allen Übels: Winter. Kälte. Trennung.
Wir redeten nicht über das, was vielleicht in der Zukunft auf uns lauerte, aber es war, als läge immerzu ein Schatten über uns, der mich frösteln ließ. Ich hatte mal eine Geschichte gelesen, in so einer ziemlich düsteren Sammlung griechischer Sagen, über einen Mann namens Damokles. Über dessen Thron baumelte ein Schwert, das nur an einem einzigen Haar hing. Das waren wir - Sams Menschlichkeit baumelte nur an einem dünnen Faden.
Am Montag setzte das Karussell mich wieder in der Schule ab, wie immer. Obwohl es erst zwei Tage her war, dass Shelby mich angegriffen hatte, waren meine Verletzungen schon kaum mehr zu sehen. Es schien ganz so, als hätte ich ein bisschen von der Werwolfgabe in mir, die ihre Wunden so schnell heilen ließ.
Olivia war nicht da und das wunderte mich. Letztes Jahr hatte sie keinen einzigen Tag in der Schule gefehlt.
Ich wartete darauf, dass sie in einem der beiden Kurse, die wir gemeinsam hatten, auftauchte, aber sie kam nicht. Mein Blick wanderte immer wieder zu ihrem leeren Platz in der Klasse. Natürlich konnte es sein, dass sie bloß krank war, doch ein Teil von mir, den ich zu ignorieren versuchte, sagte mir, dass mehr dahintersteckte. In der vierten Stunde ließ ich mich auf meinen Platz hinter Rachel fallen. »Rachel, hey. Sag mal, hast du Olivia
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