Nach Dem Sommer
sobald ich fertig bin.«
»Danke«, sagte Sam und fasste mich bei der Hand. Zusammen gingen wir den Flur hinunter, und einen seltsamen Augenblick lang fühlte ich mich wie an dem Abend, als wir uns zum ersten Mal getroffen hatten, als wäre seitdem kein bisschen Zeit vergangen.
»Warte mal«, murmelte ich, als wir durch den Wartebereich der Notaufnahme kamen, und Sam blieb mit mir stehen. Ich blinzelte durch den überfüllten Raum, doch die Frau, die ich zu sehen geglaubt hatte, war nicht mehr da.
»Was ist, wen suchst du?«
»Ich dachte, ich hätte Olivias Mutter gesehen.« Ich ließ meinen Blick noch einmal über den überfüllten Gang schweifen, aber alles, was ich sah, waren unbekannte Gesichter.
Sams Nasenflügel zuckten und seine Augenbrauen hatten sich ganz leicht zusammengezogen, aber er sagte nichts und wir gingen weiter auf die gläsernen Eingangstüren zu. Draußen hatte Mom schon den Wagen vorgefahren, ohne zu wissen, welchen Gefallen sie Sam damit getan hatte.
Winzige Schneeflocken tanzten um das Auto, eine zarte Verkörperung der Kälte. Sams Augen wanderten zu den Bäumen auf der anderen Seite des Parkplatzes, die jenseits der Straßenlaternen kaum auszumachen waren. Ich überlegte, ob er wohl an die tödliche Kälte dachte, die durch die Türritzen drang, oder an Shelbys zertrümmerten Körper, der nie wieder zu dem eines Menschen werden würde; vielleicht träumte er aber auch genau wie ich von der Spritze voll flüssigem Sommer.
Kapitel 39 - Sam (6°C)
P uzzlestücke aus meinem Leben: ein ruhiger Sonntag, Grace' Atem, der nach Kaffee roch, die fremde Hügellandschaft der neuen Narbe auf meinem Arm, der bedrohliche Geruch von Schnee in der Luft. Zwei unterschiedliche Welten, die einander umkreisten, enger und enger, bis sie sich so dicht ineinanderfügten, wie ich es nie für möglich gehalten hätte.
Meine Beinaheverwandlung vom Vortag lastete noch immer auf mir, der düstere Nachhall des Wolfsgeruchs haftete in meinem Haar und an meinen Fingerspitzen. Es wäre so leicht gewesen, einfach nachzugeben. Auch jetzt, vierundzwanzig Stunden später, hatte ich immer noch das Gefühl, dass mein Körper dagegen ankämpfte.
Ich war so müde.
Ich versuchte, mich in einen Roman zu vertiefen, kuschelte mich in einen zerknautschten Ledersessel und döste dort vor mich hin. Seit die Temperatur an den letzten Abenden gefährlich gesunken war, verbrachten wir unsere Zeit meist im selten benutzten Arbeitszimmer von Grace' Vater. Es war der wärmste und am wenigsten zugige Ort im ganzen Haus, anders als ihr Zimmer.
Mir gefiel es dort. An den Wänden reihten sich Enzyklopädien mit nachgedunkelten Einbänden, zu alt, um noch von Nutzen zu sein, und Preisplaketten aus dunklem Holz für Marathonplatzierungen, zu alt, um noch eine Bedeutung zu haben. Das ganze Zim
mer war klein und braun, ein Kaninchenbau aus dunklem Leder, rauchig duftendem Holz und Aktenordnern: ein Ort der Sicherheit und der Arbeit.
Grace saß am Schreibtisch und machte ihre Hausaufgaben, das Licht der zwei mattgoldenen Lämpchen verlieh ihrem Haar einen Schimmer wie auf einem alten Gemälde. Wie sie dort saß, den Kopf in hartnäckiger Konzentration gebeugt, hielt sie meine Aufmerksamkeit stärker gefangen, als mein Buch es tat.
Mir fiel auf, dass Grace' Stift sich schon länger nicht mehr über das Papier bewegt hatte. »Worüber denkst du nach?«, fragte ich.
Sie drehte sich mit dem Bürostuhl um, sah mich an und tippte sich mit dem Stift an die Lippen; eine so liebenswerte Geste, dass ich sie am liebsten geküsst hätte. »Waschmaschine und Trockner. Ich hab darüber nachgedacht, dass ich, wenn ich ausziehe, entweder in den Waschsalon gehen oder mir eine Waschmaschine und einen Trockner kaufen muss.«
Ich sah sie nur an, gleichzeitig fasziniert und entsetzt von diesem Einblick in ihre seltsamen Gedankengänge. »Davon lässt du dich von den Hausaufgaben ablenken?«
»Ich war nicht abgelenkt«, widersprach Grace indigniert. »Ich habe mir eine Pause von dieser dämlichen Kurzgeschichte erlaubt, die ich lesen muss.« Sie wirbelte wieder herum und beugte sich erneut über den Schreibtisch.
Eine Weile schwieg sie, ihr Stift schwebte immer noch unschlüssig in der Luft. Ohne aufzuschauen, sagte sie dann: »Meinst du, es gibt ein Heilmittel?«
Ich schloss die Augen und seufzte. »Ach, Grace.«
Grace ließ nicht locker. »Dann sag's mir doch. Gibt's eine naturwissenschaftliche Erklärung oder ist es Zauberei? Wieso bist du, was du
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