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Nach Dem Sommer

Nach Dem Sommer

Titel: Nach Dem Sommer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Maggie Stiefvater
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schwebte ich über ihnen, gewärmt von dem Gedanken an Sam.
    Ich wollte nicht, dass meine leisen, fröhlichen Gefühle sich in der lärmenden Cafeteria zerstreuten, und so ging ich schon mal in den leeren Klassenraum, in dem ich als Nächstes Unterricht hatte, und setzte mich hin. Ich strich Sams Zettel sorgfältig glatt.
    Als ich in dem leeren Klassenraum saß und die fernen Geräusche der Schüler hörte, die in der Cafeteria lärmten, musste ich daran denken, wie mir im Unterricht mal schlecht geworden und ich zur Schulkrankenschwester geschickt worden war. In dem Krankenzimmer hatte dieselbe Atmosphäre geherrscht - als wäre man weit entfernt von allem anderen, wie ein Satellit von seinem lärmenden Planeten, der Schule. Dann, nach dem Angriff der Wölfe, hatte ich viel Zeit dort verbracht, weil mir die Grippe zu schaffen machte, die wahrscheinlich gar keine Grippe gewesen war.
    Einen unendlich langen Moment starrte ich auf mein aufgeklapptes Handy und dachte darüber nach, dass ich gebissen worden war. Dass ich krank geworden war. Und dann wieder gesund. Warum war ich die Einzige, die wieder gesund geworden war?
    »Hast du deine Meinung geändert?«
    Mein Kinn ruckte hoch beim Klang der Stimme und einen Tisch weiter sah ich Isabel stehen. Zu meiner Überraschung sah sie nicht ganz so perfekt aus, wie man es von ihr gewohnt war; sie hatte Ringe unter den Augen, die ihr Make-up nur zum Teil verdeckte, und es gab nichts, was ihre blutunterlaufenen Augen hätte verbergen können.
    »Wie bitte?«
    »Über Jack. Dass du nichts über ihn weißt.«
    Ich sah sie misstrauisch an. Ich hatte mal gehört, dass Anwälte niemals eine Frage stellten, deren Antwort sie nicht schon kannten, und Isabels Stimme klang überraschend fest.
    Sie langte mit einem dünnen, unnatürlich gebräunten Arm in ihre Tasche und brachte ein Papierbündel zum Vorschein. Sie knallte es auf mein Englischbuch. »Das hier hat deine Freundin verloren.«
    Ich brauchte einen Moment, um zu erkennen, dass es ein Stapel glänzendes Fotopapier war und dass es Bilder von Olivia sein mussten, die sie hatte entwickeln lassen. Mein Magen schlug einen Salto. Die ersten Fotos zeigten den Wald, nichts weiter Bemerkenswertes. Dann kamen die Wölfe. Der verrückte scheckige Wolf, halb hinter Bäumen versteckt. Und dann der schwarze Wolf - hatte Sam mir seinen Namen gesagt? Ich zögerte, die Finger schon an der Ecke des nächsten Fotos, um weiterzublättern. Isabel hatte sich neben mir merklich versteift, bereit für das, was ich auf dem nächsten Bild sehen würde. Ich wusste, was immer Olivia da auch fotografiert hatte, es würde schwer zu erklären sein.
    Ungeduldig lehnte Isabel sich schließlich über den Tisch und riss mir die oberen Fotos aus der Hand. »Jetzt mach schon weiter.«
    Es war ein Foto von Jack. Als Wolf. Eine Nahaufnahme von seinen Augen in einem Wolfsgesicht.
    Das nächste Foto war von Jack selbst. Als Mensch. Nackt.
    Die Aufnahme wirkte auf eine rohe Art und Weise künstlerisch, beinahe gestellt, so wie Jack die Arme um seinen Körper geschlungen hatte und über die Schulter nach hinten in Richtung der Kamera sah, als wollte er die Kratzer auf seinem langen, blassen Rücken zeigen.
    Ich kaute auf meiner Unterlippe und betrachtete sein Gesicht auf beiden Bildern. Keines zeigte seine Verwandlung, aber die Ähnlichkeit der Augen war verheerend. Die Nahaufnahme des Wolfsgesichts, das war der Volltreffer. Und dann wurde mir schlagartig klar, was diese Fotos bedeuteten, die Wahrheit in ihrer ganzen Tragweite. Nicht dass Isabel Bescheid wusste. Sondern Olivia. Olivia hatte diese Fotos gemacht, also musste sie Bescheid wissen. Aber wie lange schon und warum hatte sie mir nichts davon gesagt?
    »Sag irgendwas.«
    Endlich riss ich meinen Blick von den Bildern los und sah zu Isabel auf. »Was willst du denn hören?«
    Isabel schnaubte ungeduldig. »Du siehst doch die Fotos. Er lebt. Er ist hier.«
    Ich sah wieder Jack an, wie er aus dem Wald zu mir herausstarrte. Es sah aus, als wäre ihm kalt in seinem neuen Körper. »Ich weiß nicht, was du von mir hören möchtest. Was willst du eigentlich?«
    Sie schien innerlich mit sich zu kämpfen. Eine Sekunde lang dachte ich, sie würde mich anschreien, doch dann schloss sie die Augen. Sie öffnete sie wieder und sah weg, zur Tafel an der Wand. »Du hast keinen Bruder, oder? Überhaupt keine Geschwister, stimmt's?«
    »Nein, ich bin Einzelkind.«
    Isabel zuckte mit den Schultern. »Dann weiß ich nicht, wie ich

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