Nach Dem Sommer
es dir erklären soll. Er ist mein Bruder. Ich dachte, er wäre tot. Aber das ist er nicht. Er lebt. Er ist hier , aber ich weiß nicht, wo. Ich weiß nicht, was das alles bedeutet. Und ich hab das Gefühl - ich glaube, du weißt es. Aber du willst mir nicht helfen.« Sie sah mich an, ihre Augen funkelten wild. »Was hab ich dir eigentlich getan?«
Ich wusste nicht, was ich darauf sagen sollte. Jack war immerhin ihr Bruder. Sie sollte die Wahrheit wissen. Wenn es doch nur nicht Isabel gewesen wäre, die fragte.
»Isabel«, begann ich, »du musst dir doch denken können, warum ich Angst habe, mit dir zu reden. Ich weiß, dass du mir persönlich nie irgendwas getan hast. Aber ich kenne Leute, die du fertiggemacht hast. Nenn mir - nenn mir einen Grund, warum ich dir vertrauen sollte.«
Isabel schnappte sich die Fotos und stopfte sie wieder in ihre Tasche. »Wie du schon sagtest: weil ich dir nie irgendwas getan habe. Oder vielleicht, weil ich glaube, dass das, was auch immer mit Jack los ist, dasselbe ist, was mit deinem Freund nicht stimmt.«
Ich war wie versteinert bei dem Gedanken an die Fotos im Stapel, die ich nicht gesehen hatte. War Sam darauf? Vielleicht hatte Olivia schon länger über die Wölfe Bescheid gewusst als ich - ich versuchte mir so genau wie möglich ins Gedächtnis zu rufen, was Olivia bei unserem Streit gesagt hatte, versuchte, irgendwelche Doppeldeutigkeiten darin zu finden. Isabel starrte mich an, wartete darauf, dass ich etwas sagte, aber ich wusste nicht, was.
»Okay, hör auf, mich anzustarren, und lass mich nachdenken!«, fuhr ich sie an. Die Tür des Klassenzimmers flog auf und die Schüler strömten zur nächsten Stunde herein. Ich riss eine Seite aus meinem Notizbuch und kritzelte meine Telefonnummer darauf. »Hier, meine Handynummer. Ruf mich nach der Schule an, dann können wir uns irgendwo treffen. Oder so.«
Isabel nahm den Zettel mit der Nummer. Ich suchte in ihrem Gesicht nach etwas wie Triumph, aber zu meiner Überraschung sah sie genauso schlecht aus, wie ich mich fühlte. Die Wölfe waren ein Geheimnis, das niemand gerne teilte.
»Wir haben ein Problem.«
Sam wandte sich auf dem Fahrersitz um und blickte mich an. »Müsstest du nicht noch in der Schule sein?«
»Ich bin früher gegangen.« In der letzten Stunde hatten wir Kunst. Da würde mich sowieso keiner vermissen und meine fürchterliche Skulptur aus Ton und Draht schon gar nicht.
»Isabel weiß Bescheid.«
Sam blinzelte verständnislos. »Wer ist Isabel?«
»Jacks Schwester, weißt du nicht mehr?« Ich drehte die Heizung runter - Sam hatte sie auf Hölle gestellt - und ließ meinen Rucksack in den Fußraum rutschen. Ich erzählte ihm von dem Gespräch, ließ aber aus, wie gruselig das Jack-als-Mensch-Foto gewesen war. »Ich hab keine Ahnung, was auf den anderen Fotos war.«
Sam überging das Isabel-Problem. »Das waren Olivias Fotos?«
»Ja.«
Auf seinem Gesicht spiegelte sich Sorge. »Ich frage mich, ob das was damit zu tun hatte, dass Olivia vor dem Buchladen so komisch war. Zu mir.« Als ich nicht antwortete, sah er aufs Lenkrad oder auf irgendetwas dahinter. »Wenn sie weiß, was wir sind, erklärt das hundertprozentig ihren Kommentar zu meinen Augen. Sie wollte uns dazu bringen, ihr alles zu erzählen.«
»Ja, wahrscheinlich«, entgegnete ich. »Das klingt logisch.«
Er seufzte tief. »Ich muss gerade daran denken, was Rachel gesagt hat. Über diesen Wolf, der bei Olivia zu Hause gewesen ist.«
Ich kniff die Augen zu und öffnete sie wieder. Ich sah noch immer das Bild von Jack vor mir, die Arme um den Körper geschlungen. »Oh Gott, darüber will ich gar nicht nachdenken. Was ist mit Isabel? Ich kann ihr nicht ständig aus dem Weg gehen. Und ich kann nicht immer weiterlügen; ich komme mir jetzt schon wie eine komplette Idiotin vor.«
Sam lächelte mich schief an. »Tja, ich würde dich ja fragen, was sie so für ein Mensch ist und was wir deiner Meinung nach tun sollten, aber -«
»Aber ich bin einfach zu mies darin, Leute einzuschätzen», beendete ich den Satz für ihn.
»Das hast du gesagt, nicht ich. Denk dran.«
»Okay, was machen wir jetzt? Warum hab ich das Gefühl, dass ich hier die Einzige bin, die auf Panikmodus geschaltet hat? Du bist total ... ruhig.«
Sam zuckte mit den Schultern. »Wahrscheinlich, weil ich keine Ahnung habe, wie man mit so was umgeht. Ich glaube, ich kann einfach nicht sagen, was wir machen sollen, ohne sie kennengelernt zu haben. Wenn ich mit ihr geredet hätte,
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