Nach dem Sturm: Roman (German Edition)
abgekaut waren. Sie öffnete die Grußkarten und Briefe und las, was er an sie und sie an ihn geschrieben hatte. Ein ganzes Jahr? , schrieb sie auf einer Karte anlässlich des ersten Jahrestags. Eins vorbei, und wie viele werden noch kommen? Und dann ein Ich liebe dich, und ihr Name, mit einem schwungvollen E geschrieben und einem gekräuselten A am Schluss. Ich weiß nicht, ob du mir immer wunderbarer erscheinst oder ich mir immer ordinärer , schrieb er auf einer Karte zum Geburtstag. Da sind das Meer und der Himmel, und über allem bist du , schrieb er ihr am Valentinstag. Das Leben dieser beiden Menschen lief vor ihr ab, während um sie herum das unruhige Kerzenlicht flackerte. Zwei Menschen, die sich liebten, die miteinander lachten und ein schönes Leben teilten. Sie las, hielt inne und schaute ihnen dabei zu.
Sie ging die Karten und Briefe durch und fand weitere Dinge. Eine rote Schleife, einen glänzenden Stein, einen halben Schnürsenkel, einen Schnuller. Zwei vertrocknete Rosen, die mit einem weißen Band mit der Aufschrift sono ubriaco zusammengebunden waren. Sie sprach es laut aus und fragte sich, was es wohl bedeutete. Sie wusste, dass es nicht Französisch war und wahrscheinlich auch nicht Spanisch, vielleicht war es Italienisch. »Sono« , sagte sie noch einmal laut und versuchte, seinen Sinn zu ergründen und ihn mit dem zweiten Wort in Zusammenhang zu bringen. »Sono« . Sie versuchte es immer wieder, kam aber zu keinem Ergebnis.
Sie schaute auf und starrte die drei brennenden Kerzen an, deren Flammen hin und her flackerten. Sie dachte an ihre Großmutter und stellte sich vor, wie sie am Flussufer stand und zusah, wie die Menschen von Bord gingen oder das Schiff betraten. Sie dachte an die Geschichten über Liebende, die vom Schicksal getrennt wurden, und spürte das gleiche Auf und Ab des Lebens wie damals, als sie an der Hand ihrer Großmutter vom Flussufer nach Hause ging, angefüllt mit großen Gefühlen und voller Neid wegen der aufregenden Geschichten, die anderen widerfahren waren.
Ganz unten im Schuhkarton fand sie einen großen Briefumschlag, der verschlossen war. Er war einmal in der Mitte gefaltet und hatte keine Aufschrift. Sie riss ihn nicht auf, sie wollte ihn für eine spätere Gelegenheit aufbewahren. Alles andere tat sie in den Karton zurück und machte den Deckel wieder zu. Eine Weile hatte sie den Sturm vergessen. Und auch diesen Ort.
Dann kam eine schwere Böe, der Trailer wurde hochgehoben und fiel wieder nach unten. Die Flaschen kippten um, und die Kerzen gingen aus. Sie schrie laut auf und schlang den Schlafsack enger um sich. Um sie herum war es dunkel, und der Sturm schlug wie mit tausend Fäusten gegen das Dach und die Wände des Wohnwagens. Sie versuchte, ein Lied zu singen, das ihre Großmutter immer gesungen hatte, aber sie hatte den Text vergessen und brachte nur Bruchstücke der Melodie über die Lippen. Sie wollte nur noch, dass diese Nacht endlich vorbei war, aber das würde noch lange dauern. Sie fragte sich, ob Evan und Brisco noch wach waren oder einer von den anderen. Bestimmt waren sie das, denn es war unmöglich, unter diesen Umständen zu schlafen. Ob sie sich wohl auch am Boden abstützten, so wie sie es tat? Beteten sie auch darum, dass die Seile hielten und der Sturm sich ihrer erbarmte? Oder hofften sie darauf, dass der Sturm sich nicht erbarmte, sondern sie losriss, hochhob und die Trailer allesamt wegtrug und sie irgendwo im Kudzu-Gestrüpp ganz sanft abstellte? Sie starrte in die Dunkelheit und horchte, und am meisten hasste sie, dass ausgerechnet in diesen Nächten nicht damit zu rechnen war, dass Aggie zu ihr kam.
5
Es war bereits Mittag, bevor die Lage sich beruhigte. Der Wind flaute ab, der Trailer kam zur Ruhe, und der Regen ließ nach. Mariposa schälte sich aus dem Schlafsack, zog Jeans, Sweatshirt, Strümpfe und Stiefel an, stand auf und trat ans Fenster. Sie wischte mit dem Ärmel über das beschlagene Glas und schaute nach draußen.
Es sah aus wie ein provisorisches Militärcamp in einem vergessenen Krieg am Rand eines Dschungels. Eine Ansammlung von Wohnwagen, die die Regierung einmal für Menschen bereitgestellt hatte, die ihr Haus verloren hatten. Kurze, rechteckige weiße Kästen auf Rädern, die inzwischen ein Symbol dafür waren, dass niemand die unerträgliche Situation in den Griff bekam. Ein Dutzend Trailer, die in einem lockeren Kreis auf dem erhöhten Grund einer ehemaligen Plantage standen, von dessen Hauptgebäude nur noch
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