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Nach dem Sturm: Roman (German Edition)

Nach dem Sturm: Roman (German Edition)

Titel: Nach dem Sturm: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Farris Smith
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kleine Hautpartikel des Mannes noch am Plastik.
    Sie war eine Kreolin, ihre Eltern und Großeltern waren allesamt Kreolen gewesen, und sie war am östlichen Rand des French Quarter in einem typischen Shotgun House mit Holzfußboden und mit Farbe verklebten Fenstern aufgewachsen. Zwischen sechs und zehn Personen lebten in diesem Haus, es hing davon ab, wie viele Cousins oder Onkel oder Schwestern sich gerade dort eingenistet hatten. Ihre Familie hatte ein Lebensmittelgeschäft an der Ecke Ursuline/Dauphine Street besessen. Auf der rechten Seite des Ladens wurde Gemüse, auf der linken Wein und Schnaps verkauft. In einem Hinterzimmer wurde Voodoo praktiziert. Rauchwerk und geweihte Seifen, okkulte Bücher und Kräuter für magische Zeremonien lagen dort herum. In einem anderen Raum, noch weiter hinten im Gebäude, saß ihre Großmutter in einer Wolke von Zigarettenrauch an einem rechteckigen Tisch und legte Tarot-Karten oder las anderen Leuten die Zukunft, die sie gerne gehabt hätten, aus der Hand.
    Der Raum war sehr klein gewesen, hatte keine Fenster gehabt und wurde von einer einzigen nackten Glühbirne erleuchtet, die von der Decke hing. Drei Wände waren mit dunkelrot und violett gemusterter Tapete beklebt. Die vierte Wand bestand aus Backstein, daran hing ein Drahtgitter, an dem Schwarzweiß-Fotos mit Wäscheklammern befestigt waren. Die meisten dieser Fotos waren schon vergilbt, manche an den Rändern gewellt. Die Bilder waren dreißig, vierzig oder sogar fünfzig Jahre alt. Sie zeigten tote Familienmitglieder, die ihrer Großmutter als Ansprechpartner dienten, wenn es darum ging, Glück zu verheißen oder jemandem einen bösen Zauber anzuhängen. Sie sprach die Personen auf den Fotos mit Namen an und legte sich dabei eine Hand auf die Schulter und berührte das jeweilige Bild, während sie mit ihm sprach. Stammkunden baten sie gern darum, ein ganz bestimmtes verstorbenes Familienmitglied anzusprechen, denn sie glaubten, dass die strengen Gesichter auf den verblichenen Fotos so etwas wie die Masken von Schutzengeln darstellten.
    Ihre Großmutter hieß Mariposa, und sie wurde nach ihr benannt. Sie sah ihrer Großmutter und ihrer Mutter und ihren Tanten sehr ähnlich. Das dichte wellige Haar, die tiefbraunen Augen, die kakaofarbene Haut. Als Kind war sie immer in der Nähe ihrer Großmutter gewesen, hatte in einer Zimmerecke gesessen, wenn sie die Geister beschwor, um anschließend ihre Prophezeiungen auszusprechen. Sie lief mit ihr durch die Straßen des Viertels und hörte den Erzählungen ihrer Großmutter über die Geschichte der Häuser zu und erfuhr, welche Geister in ihnen hausten. Gemeinsam saßen sie auf dem Jackson Square und fütterten die Vögel, und ihre Großmutter sprach in einem Atemzug von Jesus und den christlichen Heiligen und im nächsten von den Geistern der toten Sklaven und gehenkten Piraten. Sie liefen am Fluss entlang, und die alte Mariposa erzählte der jungen Mariposa von den Liebespaaren, die am Fluss auseinandergingen, als der eine aufs Dampfschiff stieg, während die andere am Anleger zurückblieb, weil sie auseinandergerissen wurden von Umständen, die sie nicht beeinflussen konnten. Es waren romantische Geschichten, die einen ins Schwärmen brachten, bevor sie einen nach unten zogen. Zu jeder Straße gehörte wenigstens eine Geschichte. Jede Gasse hatte ihre Geister. Zu jeder brennenden Kerze gehörte ein Gespenst, das in der Nähe herumspukte. Das Leben war ein Karneval der Imagination.
    Sie saß im Schneidersitz auf der Matratze im Trailer, den Schlafsack um die Schultern gelegt, und beugte sich nach vorn, um den Schuhkarton in Augenschein zu nehmen, den sie im Haus gefunden hatte – es musste wohl das Haus des Mannes sein, den sie überfallen hatten. Sie stöberte durch die Sachen, die offenbar Andenken an sein vergangenes Leben mit seiner Frau waren. Sie griff nach dem Champagnerkorken und roch daran und nahm ihn genauer in Augenschein. Sie hörte, wie die Klänge des Klaviers durch die Hotelrezeption plätscherten, sah die Frauen in den langen schimmernden Kleidern, die glitzernde Ohrgehänge trugen. Sie legte den Korken weg und holte einen kleinen ausgestopften Frosch heraus. Den hatten sie wahrscheinlich auf einem Jahrmarkt gewonnen oder an einer Tankstelle gekauft, aus einer spontanen Eingebung heraus, als sie an der Küste entlangfuhren. Sie nahm ein Armband aus Zuckersteinen aus dem Schuhkarton, schob es sich über die Hand und stellte fest, dass einige Bonbons schon

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