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Nach der Hölle links (German Edition)

Nach der Hölle links (German Edition)

Titel: Nach der Hölle links (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Raik Thorstad
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ohne Begrüßung fragte: »Wie geht es ihr?«
    Sascha wünschte sich verzweifelt ein Telefon mit Lautsprecher und gute Nachrichten. Er bezweifelte, dass er Andreas abfangen konnte, wenn sich der Zustand seiner Mutter verschlechtert hatte, aber er wollte vorbereitet sein.
    »Okay … und … nein? Oh, gut … Ist sie schon wach? Ich komme sofort, wenn …«
    Das klang nicht allzu schlecht. Sascha gestattete sich ein kurzes Aufatmen, das zum dankbaren Stoßseufzer wurde, als Andreas hinzufügte: »Wieso das denn nicht? … Ach so, logisch. Dann erst heute Nachmittag? … Nein, nicht nötig. Fährst du jetzt heim? Gut, was ist mit …«
    Das weitere Gespräch kreiste um medizinische Einzelheiten und Versorgungsfragen. Sascha stückelte den Sinn aus Andreas’ Fragen zusammen. Die Feststellung, dass Andreas’ Vater und Opa über Nacht im Krankenhaus geblieben waren – sehr zur Missbilligung des Personals –, ließ ihn die Nase rümpfen. Ob die von Winterfelds sich ihren nächtlichen Krankenhausaufenthalt mit einer Spende erkauft hatten, wie man es in amerikanischen Fernsehserien gern sah? Oder hatte man ein Einsehen mit den besorgten Familienmitgliedern gehabt?
    Interessant für Sascha war, dass Margaretes Stellenwert in der Familie ihr diese Form von Aufmerksamkeit sicherte. Für Andreas hatten sich die von Winterfelds nie dermaßen ins Zeug gelegt, soweit er wusste. Kein Wunder, dass sein Ex-Freund vor Minderwertigkeitskomplexen auf Knien durchs Leben kroch.
    Ungeklärte Konflikte waren etwas Abartiges. Sie zersetzten mit ihrer Säure klammheimlich das Nervensystem. Und wenn man es brauchte, sich darauf stützen wollte, krachte man zu Boden wie ein Seiltänzer, dessen Netz marode war.
    Nachdem Andreas sich verabschiedet hatte, klappte er behutsam das Handy zusammen. Mit einer Geste, die an Fragilität nicht zu überbieten war, legte er es auf den Nachttisch. Das Kunststoffgehäuse gab keinen Laut von sich, als es das Holz berührte. Anschließend sackte Andreas tonlos auf den Bettrahmen. Das Kinn prallte ihm auf die Brust, und Sascha glaubte fast, die in Mitleidenschaft gezogenen Nackenwirbel stöhnen zu hören.
    In seiner Brustgegend zog es. Sein Blick verfing sich an Andreas’ halblangen Haaren. Wie so oft, wenn andere Themen weit bedeutender waren, schob sich eine wirre Information in sein Gehirn und beharrte darauf, beachtet zu werden.
    In diesem Fall war es die Erkenntnis, wie sehr er es bedauerte, dass Andreas’ Haarpracht, um die ihn manche Frau beneidet hätte, der Schere zum Opfer gefallen war. Sascha hatte es gemocht, die Hand darin zu vergraben und sich einzelne Strähnen um den Finger zu wickeln. Andreas’ Mähne hatte ihm früher eine unbändige Note verliehen, die in Sascha begeisterten Widerhall fand. Frei sein, man selbst sein, auch wenn man dadurch auffiel. Ihm war bewusst, dass Andreas aus anderen Gründen lange Haare gehabt hatte, aber für ihn waren sie ein Symbol gewesen.
    Nervös befeuchtete Sascha die Lippen. Er wollte fragen, welche Neuigkeiten es gab. Noch lieber wollte er von hinten an Andreas heranrutschen und ihn umarmen. Hinter ihm knien und ihn gegen seine Brust ziehen, stumm signalisieren: »Du kannst dich an mich lehnen. Ich weiche nicht zurück.« Er wagte weder zu fragen, noch zu handeln.
    Das vom Frühnebel gefilterte Licht legte sich als zu kühle Decke über das Schlafzimmer. Es kroch auf sie zu, hüllte sie ein, nagte an ihnen, streute Unsicherheit. Normalerweise sagt man, das Licht des neuen Tages mache alles leichter. Sascha hatte eher das Gefühl, dass es die Dinge erschwerte. Dass Andreas ihm ferner war, er im Gegensatz zur Nacht nicht mehr sicher sein konnte, was richtig und was falsch war.
    Ein an ein trockenes Würgen erinnerndes Geräusch fuhr Sascha durch Mark und Bein. Menschliche Kehlen sollten keine solchen Laute von sich geben.
    »Andere Leute wären jetzt erleichtert, oder?«, flüsterte Andreas unvermittelt. Seine Stimme war das akustische Pendant zum Bild eines getretenen Hunds. »Ich bin es nicht. Oder doch. Irgendwie jedenfalls. Aber eigentlich kann ich nur daran denken, was für ein unglaubliches Arschloch ich bin.«
    Im ersten Augenblick war Sascha überrascht. Er hatte sich noch nicht an diesen Andreas gewöhnt, der gelernt hatte, seinen Empfindungen Ausdruck zu verleihen. Man hatte ihm zweifelsohne keine Wahl gelassen. Wer heilen wollte, musste sprechen; mit Ärzten, Therapeuten, Mitmenschen.
    Es war der einzige Weg, wenn man langfristig Fortschritte

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