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Nach der Hölle links (German Edition)

Nach der Hölle links (German Edition)

Titel: Nach der Hölle links (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Raik Thorstad
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machen wollte. All das Gedankengut, das dem Betroffenen selbstverständlich schien und doch krankhaft war, musste eingekreist und bearbeitet werden.
    Bevor Sascha sich eine Antwort zurechtgelegt hatte, fuhr Andreas fort: »Weißt du, was mein erster Gedanke war, als du ins Tierheim kamst? Nachdem du mir gesagt hast, was los ist? Ich habe gedacht: Wenn sie stirbt, muss ich die Firma übernehmen, und das kann und will ich nicht. Aber sie werden mich zwingen. Ich bin es der Familie schuldig. Also darf sie nicht sterben.« Beschämt machte er sich klein. »Ich habe mich nicht gefragt, wie es ihr geht oder für sie gebetet oder Angst gehabt, meine Mutter zu verlieren. Ich habe nur an mich gedacht und daran, dass ich den Konzern nicht schultern kann und dass ich zusammenbreche, wenn sie es von mir verlangen. Dass ich alles verliere, wofür ich gekämpft habe. Was für ein herzloser Wichser muss man sein, um so zu denken?«
    Sascha musste schlucken. Nicht, weil er Andreas’ Gedanken verwunderlich fand, sondern weil er den Druck spüren konnte, der seit seiner Kindheit auf ihm lastete. Immer wieder die Firma im Vordergrund, die als Moloch über den von Winterfelds thronte und wichtiger war als die Bedürfnisse der einzelnen Familienmitglieder. Wie eine Spinne mit klebrigem Netz hielt das Unternehmen Richard, Margarete und Andreas fest. Sie waren Gefangene, die nicht einmal dafür sorgen konnten, dass der vor Schmerzen in die Luft gehende Sohn des Hauses zum Zahnarzt gefahren wurde.
    »Du bist kein Wichser«, sagte Sascha härter als angebracht. Er war wütend, und Zorn kostete ihn die Empathie. »Du bist jemand, der selbst krank ist und sein Leben lang zurückstecken musste. Du bist jemand, der gestern im Krankenhaus um seine Mutter gebangt und heute Nacht vor Sorge kein Auge zugetan hat. Es ist nicht falsch, sich selbst schützen zu wollen. Und hey, weißt du, wie oft Leuten im ersten Moment nach einem schlimmen Ereignis hässliche Sachen durch den Kopf gehen? Das ist doch ganz normal.«
    »Meinst du?«
    »Natürlich! Was glaubst du wohl, wie viele Leute damals am 11. September nur daran gedacht haben, dass ihre eigenen Lieben gesund und munter sind. Oder bei dem Erdbeben in China vor ein paar Jahren. Oder jedes Mal, wenn es irgendwo auf einer Autobahn zu einer Massenkarambolage kommt und man einfach nur froh ist, dass man selbst eine andere Ausfahrt genommen hat. Was glaubst du, wie oft Menschen zuerst an sich selbst denken, bevor sie sich für das Leid anderer öffnen können? Es ist okay, selbst zurechtkommen zu wollen. Du weißt doch, dass dir deine Mutter nicht egal ist, oder? Nur weil dein Gehirn im ersten Augenblick deine Angst vor der Firma ausgespuckt hat, heißt das doch nicht, dass du dir keine Sorgen machst.«
    Andreas zuckte die Achseln. Kleinlaut gab er zurück: »Ich weiß es nicht. Weißt du, wie beschissen sich das anfühlt, wenn man wirklich keine Ahnung hat, was im eigenen Kopf los ist? Ich meine, wie kann man so denken? Sie sollte an erster Stelle stehen. Nur sie. Sie ist doch meine Mama.«
    Sascha wollte erwidern: »Und du bist ihr Sohn, aber das hat sie all die Jahre auch herzlich wenig gekümmert.« Er verbiss es sich mühsam.
    Es schmerzte fürchterlich, Andreas in die Rolle des ungehörten Kindes rutschen zu sehen. Wie sollte man da stark bleiben und nicht nach ihm greifen? Wie sollte man sich zusammennehmen und sich bewusst machen, dass aufgezwungene Umarmungen kontraproduktiv waren?
    Sascha musste feststellen, dass er nicht über diese Größe verfügte. Der Ereignisse des Vortags – und die Jahre der Suche – wogen zu schwer.
    Als wäre der Raum zwischen ihnen zum Vakuum geworden, wurde Sascha auf die andere Seite des Bettes gezogen. Er setzte sich hinter Andreas und streckte in Zeitlupe die Arme nach ihm aus. Berührte seine Schultern, strich ihm unsicher über den Nacken und spürte den Tremor, den er auslöste. Rückzug war keine Option. Zupacken ebenfalls nicht. Sascha kauerte auf Knien und konnte weder vor noch zurück.
    »Sie stirbt doch nicht, oder?«
    »Ich …« Verdammt, darauf hatte er keine Antwort. Er war kein Arzt, und Andreas wusste immerhin mehr als er. »Was hat dein Vater denn gesagt?«
    Wie blöd, kann man sein?, stöhnte Sascha innerlich. Warum nickte er nicht inbrünstig und schenkte Andreas ein deutliches »Nein, natürlich nicht«? Wenn die Lage ernst wäre, hätte Richard von Winterfeld seinem Sohn hoffentlich gesagt, dass er ins Krankenhaus kommen sollte. Andreas

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