Nach der Hölle links (German Edition)
bot der Großvater kurz entschlossen an. »Erkläre es ihm schnell, Richard. Ich hole schon einmal den Wagen vom Parkplatz und warte unten.«
Vor Andreas’ Augen flimmerte es. Seine Belastungsgrenze war erreicht. Nicht jene, die mit Martinshörnern und Warnblinkanlage gesichert war, sondern die andere, endgültige. Die, hinter der der Abgrund lauerte.
Entsprechend skurril kamen ihm die Erläuterungen seines Vaters vor. Andreas’ Atmung flog, während er erschöpft an der Wand lehnte und lauschte.
Margarete war ausgezehrt. Sie hatte jahrelang Raubbau an ihrem Körper betrieben. Der Unfall auf der Treppe war nicht das erste Unglück gewesen, nur hatten sich die vorherigen Zwischenfälle auf verstauchte Knöchel und Beulen beschränkt. Unterernährung und Erschöpfung hatten sie in den vergangenen Jahren mehrfach zusammenbrechen lassen. Andreas erfuhr von Weinkrämpfen, hysterischen Anfällen, Schwindelattacken, spontanem Schüttelfrost, blauen Fingern, zu viel Alkohol auf leeren Magen, ausgebliebenen Perioden – etwas, das er gar nicht wissen wollte –, drohender Osteoporose und einem Body Mass Index von 15.
In der Summe ließ sich sagen, dass seine Mutter nicht weitermachen konnte wie bisher. Sie war psychisch und physisch am Ende. Sie war krank. Krank wie er.
Andreas hörte heraus, dass er mit mehr als den Ergebnissen der jüngsten, vor und nach der Operation erfolgten Untersuchungen konfrontiert wurde.
Einige Details konnten nicht erst in den letzten 24 Stunden ans Licht gekommen sein. Er zweifelte zumindest daran, dass man seine Mutter einer Prüfung der Knochendichte unterzogen hatte.
Fakt blieb, dass er von all dem nichts gewusst hatte; nicht in diesen Ausmaßen. Aber wunderte er sich über den schlechten Allgemeinzustand seiner Mutter? Er kannte sie nur als zu dürre, hektische, gejagte Frau, die für nichts und niemanden Zeit hatte. Das bezog ihre eigene Person mit ein. Sie war nie anders gewesen, solange er sich erinnern konnte.
Insofern war er nicht überrascht. Bei genauerer Betrachtung war er nicht einmal schockiert.
»Okay«, sagte Andreas rau und spürte seine Speiseröhre krampfen. »Ich weiß Bescheid. Danke.«
Richard legte die Stirn in Falten und nickte. Er schien eine hilfsbereitere Reaktion erwartet zu haben. Andreas konnte sie ihm nicht bieten.
Der Nebel um seinen Geist gewann an Dichte, schloss ihn ein, machte es unmöglich, das Gesicht seines Vaters klar zu erkennen. Dafür erinnerte Andreas sich ungewollt an andere Dinge, über die er sich erst Gedanken machen wollte, wenn er bei Köninger war. Wenn er zu früh ins Wespennest stach, würde er daran zugrunde gehen.
Getrieben von diesem Vorsatz verließ Andreas das Krankenhaus. Mehr als ein Besucher sah ihm skeptisch nach, als er durch das Foyer rannte. Er erbrach sich am Taxistand, bevor er zu seinem Opa in den Wagen stieg.
* * *
»Ich komme einfach nicht klar. Sie hat da gelegen, und sie wirkte plötzlich so alt. Und die bringen nichts anderes zustande, als sich zu streiten. Aber ich bin ja nicht besser. Sascha … ich meine, was tut er hier? Als er auftauchte, ich wollte ihm eine scheuern. Fast jedenfalls. Ich dachte: Scheiße, was will er? Stalkt er mich jetzt? Und gleichzeitig dachte ich, dass ich nicht glauben kann, dass er sich solche Mühe gibt. Nie hat sich jemand so viel Mühe gegeben. Auch meine Mutter nicht. Und jetzt liegt sie da mit diesem Loch im Kopf und … sie haben es mir verschwiegen. Nicht das mit dem Loch. Obwohl, wer weiß? Vielleicht hätten sie mir gar nichts gesagt. Schon wieder! Sie war selbst in der Psychiatrie, und keiner spricht mit mir. Gehöre ich nicht dazu? Was wäre schon passiert, wenn sie es mir erzählt hätten? Aber nein, nein, da ist es viel besser, es im Krankenhaus zu machen, während sie operiert wird.
Ich habe übrigens gekotzt. Ich habe wirklich solange ausgehalten, wie es ging, aber draußen war es dann vorbei. Ist das schlimm? Und ich hätte heulen können, verstehen Sie? Meine Mutter liegt da im Krankenhaus, und es geht ihr richtig mies. Aber was dachte ich? Dass sie hoffentlich nicht stirbt, damit ich nicht ihren Job machen muss. Sascha meint, das wäre menschlich. Ist es das? Ich weiß es nicht.
Er hat für mich gekocht. Ich konnte nichts essen, aber hey, er hat für mich gekocht. Und er hat gesagt: Wir entscheiden morgen, was passiert. Wir! Es gibt kein Wir mehr. Aber ich habe ihm erlaubt zu bleiben. Und er hat bei mir geschlafen. Neben mir. Ist man eigentlich sehr widerlich,
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