Nach der Hölle links (German Edition)
Lüge ertragen könnte.
Das wiederum warf die Frage auf – und natürlich war es wieder Köninger gewesen, der sie in den Raum stellte –, warum Andreas das Gefühl hatte, Sascha betrogen zu haben.
Sie waren nicht zusammen. Sie schuldeten sich nichts. Sascha mochte verliebt sein, aber Andreas war es nicht.
Zumindest hatte er das geglaubt, bis Köninger scheinheilig fragte: »Ist dir nie der Gedanke gekommen, dass es weit weniger um Saschas verletzte Gefühle geht, als darum, dass du viel lieber mit ihm im Garten allein gewesen wärst als mit dem anderen?«
Das hatte Andreas’ seelischem Chaos die Krone aufgesetzt.
Seitdem hatte er größere Angst als bisher, Sascha zu verlieren. Noch mehr Angst, mit ihm zusammen zu sein. Angst vor der Einsamkeit. Angst davor, verletzt zu werden. Angst, nur Sascha lieben zu können und dadurch immer allein zu bleiben.
Seit der Therapiesitzung musste Andreas drei heftige Panikattacken durchleiden. Einmal war er mitten in der Nacht in dem Gefühl aufgewacht, jeden Moment zu ersticken. Das zweite Mal hatte es ihn erwischt, als er am Morgen das Haus verließ und der Bürgersteig unter seinen Füßen wegzuklappen drohte. Das dritte Mal kam auf den letzten Metern des Busses vor dem Tierheim über ihn.
Jetzt begann es wieder. Es kroch an ihn heran. Es sickerte lähmend durch seine Adern. Die Angstszenarien brachen urplötzlich los. Sie vertrieben jeden Gedanken an Sascha aus Andreas’ Kopf. Zurück blieb ein Sirren in seiner Herzgegend, das nichts Gutes verhieß.
Fühlte sich so ein Herzinfarkt an? Falls ja, wer war in der Nähe? Wer konnte ihm helfen? Was war das für ein Summen in seiner Schläfe? Woher kam das Druckgefühl auf seinem Brustkorb? Wo war sein Puls? Was war mit seiner Atmung? Bekam er genug Luft? Nein. Nicht genug Luft. Nein, nichts war normal. Er würde ersticken. Sein Herz würde stehen bleiben. Und niemand war da, der ihm helfen würde. Würde er es bis ins Krankenhaus schaffen? Musste er sterben? Allein?
Der arbeitende Teil von Andreas’ Verstand registrierte, dass diese Panikattacke ihn besiegen würde. Sie erfasste zu viel von seiner Substanz und griff auf seinen Körper über.
Er schnappte nach Luft, glaubte zu ersticken. Irgendwie und irgendwo wusste er, dass Hyperventilation nie zum Tod führte, sondern lediglich in die Ohnmacht, in der sich die Atmung von selbst regulierte. Das Wissen rettete ihn nicht vor der Furcht. Der Schweiß rann über Rücken, Brust und Beine. Er leckte sich einen Weg über die eingetrockneten Pfade vom Vormittag.
Andreas krümmte sich zusammen. Er musste nach Hause. Sofort. In sein sicheres Nest. Es gab keinen Weg, der dahin führte. Die Strecke zwischen dem Tierheim und seiner Wohnung war unüberwindbar. Warum war nie jemand bei ihm? Kein Ende war in Sicht. Andreas’ Angst war nicht ortsgebunden. Sie keimte tief in ihm und löste sich nicht auf. Eine Welle nach der nächsten schwappte über ihn hinweg. Das Zeitgefühl kam ihm abhanden.
Er hörte kaum, dass sich die Tür öffnete. Alles klang gedämpft, wie auch die Stimme, die energisch ins Büro rief: »Robert, weißt du, wo ich die Vordrucke … Andreas?«
Dr. Toczek wieselte um den Schreibtisch herum und stieß in ihrer Eile die offene Druckerlade beiseite. Der Kunststoff knirschte, brach aber nicht. Die Tierärztin kniete sich neben Andreas. »Himmel, Junge. Du siehst aus wie der Tod. Ist dir schlecht?«
Er schüttelte den Kopf. Es schien ihm den Nacken zu sprengen. Sofort begann der Drehschwindel. Er krallte sich an den Schreibtisch.
»Angst?«, fragte Dr. Toczek behutsam.
Andreas nickte und ließ es zu, dass sie ihm mütterlich über die Stirn strich und anschließend seine Hand in ihre kleine nahm.
Sie überlegte einen Augenblick. Dann machte sie eine entschlossene Miene. »Schaffst du es bis zum Parkplatz? Ich fahre dich nach Hause.«
Laut Therapie war Flucht immer der falsche Weg. Andreas wusste darum. Aber er konnte nicht mehr weiter und war verzweifelt. Und er war der Tierärztin zum Heulen dankbar, dass sie aufgetaucht war und sich seiner annahm. Dass sie die Initiative ergriff, statt nervös neben ihm zu stehen und sich sein Elend anzusehen.
So weit, der Weg zum Parkplatz. Er würde umkippen und sich den Kopf aufschlagen. Wenn Sascha hier wäre, er könnte ihn auffangen und ihm in seine Wohnung helfen. Er könnte ihn vielleicht sogar beruhigen. Dr. Toczek dagegen, diese zarte Frau mit den feinen Gliedmaßen, konnte ihn nicht halten. Er würde stürzen
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