Nach der Hölle links (German Edition)
und sterben. Nein, das Büro war sicherer. Trotzdem wollte er nach Hause.
»Reiß dich zusammen«, formte sein Mund lautlos. Seine Lippen waren taub, der Kreislauf raste im Bemühen, seinen Körper aufrecht und fluchtbereit zu halten.
Andreas grub die Fingernägel in die Handflächen, um sich zu konzentrieren. Der feine Schmerz half.
Nur bis zum Auto. Während der Fahrt ausruhen und Kraft sammeln. Dann vom Auto bis zur Haustür. Von dort Stufe für Stufe. Oben erwartete ihn die Sicherheit. Ja, das konnte er schaffen.
Schwankend stand er auf. Er wollte Dr. Toczek dankbar zulächeln, aber er schaffte es nicht. Nichts ging mehr. Er war ein Wrack. Und er wünschte aus tiefstem Herzen, Sascha wäre bei ihm.
* * *
Der Lieferwagen, mit dem Katjas Habseligkeiten nach Hamburg gebracht wurden, war noch nicht da, als Sascha das moderne Wohnheim des Studentenwerks erreichte. Dafür stand der Kleinwagen der Suhrkamps auf dem Parkplatz. Seine Mutter steckte bis zu den Schultern im Kofferraum und wühlte in einem Karton.
Sascha bereute, pünktlich erschienen zu sein. Der Drang, umzudrehen und sich zu verstecken, bis sein Vater und Katja ankamen, war groß, kam ihm aber albern vor. Unbehaglich rückte er den Bund seiner sportlichen Shorts zurecht und trat auf den Parkplatz.
»Hallo Mama.«
Karen Suhrkamp fuhr aus dem Kofferraum hoch und wirbelte zu ihm herum. Ihr erster Blick galt seiner Aufmachung. Ihre Augen weiteten sich empört.
»Hättest du dir nicht etwas anderes anziehen können?«, begrüßte sie ihren Sohn in übertriebenem Flüsterton. »Du musst doch nicht so … flanieren.«
Keine Minute war in der Gegenwart seiner Mutter verstrichen, und schon hatte Sascha größte Lust zu gehen.
Gut. Vielleicht, ganz vielleicht hatte er nicht aus Zufall das grelle Regenbogen-T-Shirt vom letzten CSD an, das er sonst nie freiwillig trug, weil er sich darin vorkam wie ein gut befüllter Kaugummiautomat. Vielleicht hatte er es angezogen, weil er wusste, dass sie sich darüber ärgern würde. Andererseits hatte er vielleicht schlicht das Bedürfnis gehabt, Flagge zu zeigen, gerade weil sie ihm mit ihrer Ablehnung das Leben schwer machte.
»Wirklich. Was hast du dir dabei gedacht?«, fügte seine Mutter zischend hinzu. »Was sollen Katjas Mitbewohner denken? Du bist wirklich rücksichtslos. Jetzt werden alle im Wohnheim sie als die mit dem …«
»Schwulen?«, half er aus.
Karen Suhrkamp verzog das Gesicht, bevor sie kaum hörbar wisperte: »… schwulen Bruder in Erinnerung behalten.«
Sascha wusste nicht, was er darauf erwidern sollte. Keine Psychologie-Vorlesung der Welt konnte ihn auf die kruden Gedankengänge seiner Mutter vorbereiten. Egal, wie gut er sich innerlich vor Begegnungen mit ihr wappnete, ihre Scham vor seiner sexuellen Orientierung traf ihn jedes Mal von Neuem.
Nichts, was er in den vergangenen Jahren versucht hatte, um ihr Verhältnis zu verbessern, hatte Wirkung gezeigt. Es ließ sich nicht leugnen, dass seine Bemühungen halbseiden gewesen waren und sich schließlich im Sand verlaufen hatten.
Aber diese Schuld sah er nicht bei sich allein. Je verzweifelter er versuchte, seiner Mutter zu beweisen, dass er kein anderer war als früher, desto weiter zog sie sich vor ihm zurück. Dass sie inzwischen in einer katholischen Kirchengruppe im Nachbardorf Rückhalt gefunden hatte und man ihr in ihrer Ablehnung alles Homosexuellen den Rücken stärkte, machte es fast unmöglich, zu ihr durchzudringen. Es gab kein Argument, das sie nicht mit »Gott sieht das anders« entkräften konnte. Er hätte sich ebenso gut mit einer Mauer unterhalten können.
»Das Wohnheim sieht nett aus«, sagte er, um das Thema zu wechseln. »Eins von den neueren.«
Seine Mutter machte eine finstere Miene. »Sagst du. Ich bin nicht einverstanden. Nicht, dass mich jemand fragen würde. Der Vormieter hat das Zimmer nicht sauber gemacht, und vom Studentenwerk hat sich auch niemand darum gekümmert. Die Küche ist ein einziger Saustall.«
»Du warst schon drin?«, fragte Sascha ernsthaft überrascht.
»Ja, darf ich das etwa nicht?«, schnappte sie zurück. »Wenn ich schon nicht wissen darf, wo mein Sohn lebt, dann möchte ich wenigstens wissen, wo meine Tochter steckt.«
»Ich wohne bei deiner Schwester!«, erinnerte Sascha sie scharf.
»Ja, jetzt. Aber die Wohnung vorher durfte ich wohl nicht sehen. War vermutlich irgendeine heruntergekommene Bude, in der …«
Sie sprach nicht weiter, wofür Sascha dankbar war. Er wollte nicht
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