Nach der Hölle links (German Edition)
du schaffst es nicht einmal, überrascht zu gucken. Interessiert dich echt so gar nichts außer deinen Zahlen?«
»Beschwerst du dich etwa gerade, dass ich mich nicht an deiner Homosexualität störe?«, erwiderte Richard trocken. Er schüttelte den Kopf. »Ich weiß ja, dass du kein gutes Bild von mir hast. Oder von deiner Familie allgemein. Vermutlich sogar mit Recht. Aber wenn du gedacht hast, ich würde das Ungeheuer geben, muss ich dich enttäuschen. Abgesehen davon war ich tatsächlich überrascht, als ich herausgefunden habe, dass du schwul bist. Allerdings hatte ich vier Jahre Zeit, mich an den Gedanken zu gewöhnen.«
»Was?« Andreas schrie fast. Ihm wurde schwindelig, und er wünschte, er hätte sich nicht von der Tür entfernt. Er brauchte etwas zum Festhalten. »Wieso? Wann? Und wieso wusste Mama nichts, wenn du es wusstest?«
Richard schob die Tastatur auf dem Schreibtisch umher. »Weil ich nicht sicher war, wie deine Mutter auf diese Neuigkeit reagiert. Es geht ihr schlecht, wie du weißt. Und was das Wann angeht: Erinnerst du dich an die kleine Hostess, die ich gebeten hatte, dir auf der Gartenparty vor einigen Jahren Gesellschaft zu leisten? Sie hat mich auf den Gedanken gebracht. Ich war nicht davon begeistert, ehrlich gesagt, und habe ihr nicht geglaubt. Aber nachdem du in der Klinik warst, habe ich mich in deinem Zimmer umgesehen. Ich wollte … Nun, egal, was ich wollte: Ich habe mir deine DVDs angesehen und in der zweiten Reihe eindeutige Filme gefunden. Und da war ich sehr verwundert. Das kannst du mir glauben.«
»Und warum hast du nichts gesagt?«
»Du hast doch auch nichts gesagt.«
Andreas wusste nicht zu kontern. Er brauchte seinem Vater nicht damit kommen, dass es leichter gewesen wäre, wenn er ihm diese Last von den Schultern genommen hätte. Dass es ihnen vielleicht allen gut getan hätte, miteinander zu reden. Er konnte von niemandem Sozialkompetenz erwarten, der auf diesem Sektor bisher immer versagt hatte.
»Ja, ist klar. Gut. Ich gehe dann mal«, stotterte Andreas.
Auf dem Weg nach draußen wartete er, obwohl er es besser wusste. Er wartete auf die Stimme, die ihm nachrief: »Ach, und Andreas: Es ist okay. Wirklich.«
Sie kam nicht.
Für den Rückweg bemühte Andreas kein Taxi. Stattdessen ging er vom Firmengebäude aus eine weite Strecke zu Fuß. Die Enge eines Personenwagens hätte er nicht ertragen.
Schweiß stand ihm auf der Oberlippe, Wasser in seinen Augen, als er mit gesenktem Kopf den Bürgersteig entlang ging. Das Handy in seiner Tasche drückte ihn. Er sollte anrufen. Sascha oder Köninger, einen von beiden. Er ließ es bleiben. Was wollte er ihnen schon sagen? Dass alles eine riesige Schmierenkomödie gewesen war? Dass er nicht wusste, was er damit anfangen sollte?
Er musste nachdenken.
Vier Jahre lang hatte sein Vater Bescheid gewusst. Nichts gesagt, kein Sterbenswort. Er hatte es gewusst, als Andreas in sein Büro kam, um ihm die Wahrheit zu sagen und nichts getan, um es ihm zu erleichtern.
Wäre es so schwer gewesen zu sagen: »Junge, ich kann mir denken, was du sagen willst. Ich weiß es schon.«
Andreas sah zu, wie ihm die schwarzen Schnürsenkel seiner Docs um die Füße zischten. Er traute sich nicht, sich hinzuknien und sie zuzubinden. Am Ende kam er nicht mehr auf die Beine.
Warum dieses Schweigen? Warum dieser Vergleich mit dem schwulen Grafiker, der ach so brillant war?
»Vielleicht war das seine Art zu sagen, dass es okay ist«, bemerkte ein leises Stimmchen in seinem Hinterkopf. »Vielleicht wollte er damit sagen, dass er seinen Mitarbeiter schätzt, obwohl er schwul ist. Und dass er dann auch seinen Sohn schätzen kann.«
Dumm nur, dass schätzen nicht reichte. Andreas wollte etwas anderes von seinen Eltern. Sie sollten seine Kämpfe und Erfolge anerkennen, sie sollten ihn nehmen, wie er wahr. Sie sollten ihn vor allem lieb haben. Und ausgerechnet daran würde er immer zweifeln.
Es war an sich gut gelaufen, sein Coming Out. Trotzdem war es in die Hose gegangen, denn es hatte sich nichts geändert. Sein Vater dachte zuerst an die Firma, seine Mutter dachte zuerst an sich selbst und an ihn dachte niemand. Sie konnten nicht anders. Seine Eltern waren unfähig, menschlich zu agieren.
Während Andreas eine unbefahrene Straße überquerte, wurde ihm bewusst, dass er Glück gehabt hatte. Glück, weil er durch seine Krankheit ausgebrochen war. Weil er eine Chance hatte, die sie verspielt hatten: Er war ein Mensch geblieben.
Nach dieser
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