Nach der Hölle links (German Edition)
allem Luxus zum Trotz emotional verwahrlost war.
Verwahrlost! Wie die Kinder im Fernsehen, die in schmutziger Kleidung umherliefen, ohne Frühstück und Bücher in die Schule kamen und deren Eltern Tag und Nacht betrunken waren.
Und wofür? Für schwarze Zahlen. Für Millionen in Fonds, auf Konten, in Immobilien. Für verfluchte Joghurtbecher mit grinsenden Kühen.
Andreas presste die Lippen aufeinander. Keine Frage, Reichtum war großartig. Er genoss ihn. Aber wenn es nach ihm ging, hätten ein paar Hunderttausend gereicht. Wie viel weniger reich wäre seine Familie, wenn seine Eltern sich jeden Abend eine Stunde Zeit für ihn genommen hätten?
Seit der Aussprache mit seiner Mutter waren kaum 24 Stunden vergangen. Andreas war früh am Morgen aufgewacht, panisch und aufgelöst. Hatte Köninger angerufen, ihm das Chaos in seinem Kopf geschildert. Von den Schuldgefühlen, die sich aufdrängten, davon, dass selbige Schuldgefühle ihm krankhaft erschienen, dass er nicht wusste, ob er wütend sein sollte oder nicht, dass er sich betrogen fühlte und deshalb schäbig.
Köninger hatte ihm zugehört, ihn auf den Boden der Tatsachen zurückgebracht und ihn für die nächste Baustelle gestärkt. Professionell, aber nicht kalt.
Niemand erwartete von Andreas, dass er hier und heute seinen Vater konfrontierte. Nicht einmal er selbst – und das war eine Besonderheit. Aber er wollte es weghaben. Nicht nur, weil er fürchtete, seine Mutter könne sich verplappern. Er wollte es hinter sich bringen, damit er sich anschließend verkriechen konnte. Das Gespräch sollte nicht länger vor ihm lauern und ihm das Wochenende verderben.
Er wusste nicht, was auf ihn zukam. Wieder einmal hatte es ein Gespräch mit dem Therapeuten gebraucht, um zu realisieren, dass er keine Ahnung hatte, wie seine Eltern zu Homosexuellen standen. Es war nie Thema gewesen.
Mit größter Selbstverständlichkeit – und weil er seinen Eltern nur noch das Schlechteste zutraute – war er davon ausgegangen, dass seine Mutter ihn anschreien, vor die Tür setzen, sich vor ihm ekeln würde. Dass sie nichts dergleichen getan hatte, machte einerseits Mut und stiftete andererseits Verwirrung.
Es war an der Zeit. Für einen kurzen Augenblick schloss Andreas die Augen und sammelte seine Kräfte. Er stellte sich vor, dass sie ihn als unsichtbare Satelliten umkreisten, von denen er jederzeit Energie abziehen konnte.
Sehnsüchtig dachte er an Sascha, an das herzliche Willkommen in dessen Haus am Vortag, und schuf sich einen mentalen Schutzschild. Was immer geschah, Sascha und dessen Familie würden ihn nicht verlassen. Mandy und die Freundschaften, die sich langsam bildeten, würden ihm erhalten bleiben. Selbst seine Mutter hatte aller Hysterie zum Trotz nicht negativ reagiert. Er brauchte seinen Vater nicht. Fragte sich nur, warum er in diesem Augenblick weit mehr Angst hatte als am Vortag.
Dem ernsten jungen Mann, der wenige Minuten später den Eingangsbereich des Büroturms betrat, war nicht anzusehen, was ihn der Schritt in die Firma kostete. Die Jahre, in denen das Verbergen seines Innenlebens Bestandteil seines Alltags gewesen war, halfen ihm. Andreas wirkte selbstbewusst und gesund, ohne es zu sein. Es war ihm recht. Niemand würde es sehen, wenn er später zitternd in der Küche kauerte.
Die Chefsekretärin Frau Schwarz hielt anfangs nichts davon, den unbekannten Besucher zum Chef vorzulassen. Giftig gab sie den Zerberus und fragte, ob ihm bewusst sei, dass Herr von Winterfeld ein sehr beschäftigter Mann sei. Man könne nicht einfach ohne Termin zu ihm hereinplatzen.
Andreas machte sich einen Spaß daraus, sich ihr genüsslich vorzustellen. Er überlegte, ob ein Hinweis angemessen sei, dass ein guter Teil des Konzerns bereits ihm gehörte, aber offenbar wusste Frau Schwarz auch so, mit wem sie es zu tun hatte. Ihr mauliges Verhalten wurde durch verlegene Freundlichkeit ersetzt und viel früher, als Andreas recht war, durfte er das Büro seines Vaters betreten.
Als erstes fiel ihm auf, dass Richard von Winterfeld alt geworden war, wenn auch auf andere Weise als seine Ehefrau, die Krankheit und Unterernährung zeichneten. Der Prinzgemahl der von Winterfelds hatte sich verändert. Er hatte früh eine Halbglatze entwickelt, aber jetzt sahen die verbliebenen Haare schütter aus. Auch hatte Richard immer einen Bierbauch vor sich hergetragen. Nun aber wirkte er aufgeschwemmt, die Haut im Gesicht teigig, die geplatzten Adern auf der Stirn zu rot, die dunklen
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