Nach der Hölle links (German Edition)
Andreas im Einzelnen ergangen war. Und er wollte ihm Dinge sagen, die ihm nicht zustanden. Wie sehr er ihn bewunderte. Wie viel besser er ihn mittlerweile verstand. Wie sehr ihre Freundschaft und Beziehung ihn hatte reifen lassen. Wie viel Angst er um ihn gehabt hatte. Wie sehr er sich schämte, kopflos davongelaufen zu sein. Wie unglaublich stolz er auf ihn war, weil er hier und heute beurteilen konnte, wie krank Andreas eigentlich war.
Sascha hatte in den ersten drei Jahren seines Studiums genug Fachwissen gesammelt, um beurteilen zu können, dass Andreas’ Störung von ausgeprägter Natur und tief in seiner Psyche verankert war.
Sie entsprang keinem einmaligen Schock wie einem Unfall oder einem anderen Erlebnis, das ihn aus der Bahn geworfen hatte. Sie war wie ein Tumor über lange Jahre in ihm gewachsen – gefüttert von den Umständen, in denen er lebte –, bis sie sein Selbst zu verschlingen drohte.
Sascha warf den Kugelschreiber von sich und musste schnell wieder danach greifen, als er drohte, über den Rand des Tisches in die Hochsteckfrisur der Kommilitonin auf dem Sitz vor seinem zu stürzen.
Es ließ ihm keine Ruhe. Er konnte nicht aufhören, über früher, über heute, über Andreas nachzudenken. Warum hatte Sascha ihm nachlaufen und sehen müssen, wo er wohnte? Jetzt konnte er gar nicht anders, als sich permanent zu fragen: »Soll ich hingehen? Soll ich mit ihm reden? Soll ich versuchen, es wieder gutzumachen? Soll ich mich wenigstens erklären? Soll ich ihn wissen lassen, dass ich es bereut habe, ihn zu verlassen?«
Sascha wusste nicht, was richtig war. Er wusste nicht einmal, wie er selbst dazu stand, Andreas noch einmal in die Augen zu sehen.
»… bedanke mich bei euch für heute. Wir machen Donnerstag an dieser Stelle weiter. Mahlzeit, alle miteinander!«
Sascha blickte auf, als der Professor sich verabschiedete. Christopher Weedman war ihm anfangs unsympathisch vorgekommen. Es hatte einige Zeit gedauert, bis er begriff, dass er sich in erster Linie an dessen schriller Stimme stieß, die stets mit einem quäkenden Geräusch aus den Nebenhöhlen unterlegt war. Der pfannkuchenbreite, britische Akzent machte es anfangs nicht leichter, sich mit Christopher, der sich von seinen Studenten duzen ließ, zu unterhalten. Böse Stimmen behaupteten, dass der Professor einzig deshalb an der Universität geblieben war, weil man keinem Patienten sein eigenartiges Sprechverhalten zumuten konnte.
Mittlerweile mochte Sascha Christopher ausgesprochen gern. Nicht nur, weil er sich Mühe gab, sein Fach anschaulich zu vermitteln, sondern auch, weil er ein offenes Ohr für seine Studenten hatte und meist für einen guten Rat zu haben war.
Während um ihn herum Gespräche entbrannten und Taschen zusammengepackt wurden, blieb Sascha sitzen. Er hörte Svenjas Stimme in seinem Hinterkopf: »Sprich mit dem Prof. Ich sehe dir doch an, dass du dir den Kopf zerbrichst. Er kennt die Geschichte wenigstens schon. Mit mir redest du ja nicht darüber. Als Psychologiestudent solltest du ja wohl am besten wissen, dass man solche Sachen nicht totschweigen kann.«
Solche Sachen. Hatte er sich in den Anfangstagen des Studiums wirklich so merkwürdig aufgeführt? In den Monaten, als sie sich alle kaum kannten und er nachts oft am Küchentisch saß, weil er nicht schlafen konnte? Oder plötzlich wie wild in den Zeitungen kramte, auf der Suche nach … irgendetwas? Wahrscheinlich. Warum sonst schickte Svenja ihn im übertragenen Sinne zum Psychologen, nachdem er seinen Ex-Freund getroffen hatte?
Noch während Sascha sich nach dem Warum fragte, griff er nach seinen Sachen. Seine Füße setzten sich selbstständig in Bewegung. Nicht hinaus zur Tür und durch die Flure in Richtung Kantine, wo er mit Isabell und ihrem Freund zum Essen verabredet war, sondern nach unten. Hinunter auf das Podium und auf die im Neonlicht glänzende Halbglatze seines Professors zu. Gut, dann würde er eben dessen Rat einholen. Wie praktisch, dass seine Füße ohne Rücksprache mit dem Kopf entschieden hatten. Am Pult angekommen räusperte Sascha sich.
Christopher sah auf und nickte ihm grüßend zu. »Schön dich zu sehen.« Er lächelte. »Verschlafen? Ich habe dich gesehen, als du vom Bus hierher gerannt bist.«
»Nicht wirklich«, wehrte Sascha ab, bevor er zugab: »Na, ein bisschen eng war es schon.«
»Nett von dir, dass du dich beeilt hast, statt wie ein Elefant in die Vorlesung zu platzen«, seufzte Christopher. »Da kenne ich ganz andere
Weitere Kostenlose Bücher