Nach dir die Sintflut
mehr verschwommen, sondern verschwunden waren. Rebecca fing zu schluchzen an. Sie beweinte nicht den Verlust der Schwester, sondern den Verlust ihrer Gefühle für Lisa. Rebecca machte den Motor aus und zog den Zündschlüssel ab. Sie weinte für eine längere Zeit.
Nachdem sie sich die Nase geputzt und die Augen ein zweites Mal geschminkt hatte, startete sie den Motor. Schniefend fuhr sie zum Krankenhaus. Als sie den Blinker setzte, um auf den Krankenhausparkplatz abzubiegen, kam ihr ein Gedanke. Wäre es möglich, dass sie ihre Gefühle für Lisa gelöscht hatte, als sie die Andenken entsorgt hatte? Und falls es so war - würde es ihr dann möglich sein, jede beliebige Gefühlserinnerung zu tilgen, indem sie das dazugehörige Andenken wegwarf? Der Gedanke schien absurd, geradezu lächerlich, außerdem war er von allen Erklärungen für das plötzliche Schwinden der Schwesterliebe
die unwahrscheinlichste. Aber dann fiel Rebecca ein, dass der Hund im Nachbargarten ihr eine perfekte Gelegenheit bot, die Theorie zu überprüfen. Rebecca bog nicht ab. Sie deaktivierte den Blinker und fuhr zu E. Z. Self Storage, parkte vor dem Gebäude und ging direkt in den zweiten Stock.
Sie hängte das Vorhängeschloss an die geöffnete Tür von Nummer 207 und wandte sich dem Kistenstapel rechts vom Eingang zu. Sie nahm acht Kartons herunter, um den mit dem Etikett Ängste zu öffnen. Sie kippte ihn um und verteilte den Inhalt auf dem Betonboden. Rebecca wühlte mit der rechten Schuhspitze in den Gegenständen, bis sie ein Kinder-T-Shirt mit eingerissenem Kragen fand.
Sie verließ den Lagerraum 207 mit dem T-Shirt in der Hand. Sie nahm den Hinterausgang und ging direkt zum Müllcontainer. Auf der linken Seite schaute ein Bücherregal aus Sperrholz heraus, rechts daneben standen zwei kaputte Fernsehsessel übereinander. Rebecca knüllte das T-Shirt zu einem kleinen Stoffball zusammen, den sie in die Luft warf. Der Ball öffnete sich noch in der Aufwärtsbewegung, und dann segelte das T-Shirt wie in Zeitlupe in den Container.
»Du kannst mich mal, T-Bone«, sagte Rebecca. »Du kannst mich mal.«
Als das T-Shirt im Müll landete, verspürte Rebecca das bekannte Stechen in der Brust, nur dass es diesmal viel weniger schmerzhaft war. Es war verschwunden, noch bevor Rebecca wieder beim Auto war. Sie warf einen Blick auf die Uhr und stellte fest, dass sie für die gesamte Aktion weniger als eine Stunde gebraucht hatte. Kurz nachdem sie den Motor angelassen hatte, verfiel sie in einen Tagtraum; sie war wieder Kind und spielte im Hinterhof ihres Elternhauses. Sie buddelte in der Sandkiste und stieß auf mehrere Miniaturhunde. Sie stellte sie in einer Reihe auf dem Rasen auf und brachte ihnen bei, die
Nationalhymne zu bellen. Obwohl Rebecca es besser wusste, fühlte es sich an wie eine Erinnerung. Als sie in der kleinen Straße hinter ihrem Haus geparkt hatte und auf dem Weg zum Durchgang war, hatte sie den Traum praktisch schon vergessen.
Der Hund war immer noch auf dem Nachbargrundstück, als Rebecca vorbeikam, und er war immer noch an den Baum gekettet. Seine Muskeln waren noch genauso dick, seine Zähne genauso spitz. Rebecca ging auf ihn zu. Der Hund bellte nicht, er knurrte nicht einmal. Während sie sich ihm näherte, dachte Rebecca an den Vorfall mit T-Bone, bei dem ihr T-Shirt zerrissen war und ihre Hundeangst begonnen hatte. Obwohl die Erinnerung glasklar war, hatte Rebecca das Gefühl, die Situation nie erlebt zu haben. Ihre Hundeangst war restlos verschwunden. Diese Tatsache ließ sich nicht verleugnen, immerhin stand Rebecca jetzt direkt vor dem Hund, der immer noch keine Anstalten machte zu bellen, zu knurren oder die Zähne zu fletschen. Er hob den Kopf, und als Rebecca die Hand ausstreckte, leckte er sie schwanzwedelnd ab.
Dreizehn
Das Prairie Embassy Hotel
Für die Existenz des drei Kilometer außerhalb von Morris, Manitoba, gelegenen Prairie Embassy Hotels gab es keinen Grund. In der Nähe befanden sich weder bedeutende Touristenattraktionen noch irgendwelche Naturwunder, genau genommen nicht einmal ein Highway. Die Zimmer waren nicht mit Kabelfernsehen ausgestattet, tatsächlich verfügten sie nicht einmal über einen Fernseher. Die Telefone hatten Wählscheiben. Im ganzen Gebäude stand kein einziger Computer.
Margarets altmodische Ansichten in Sachen Hotelmanagement zeigten sich insbesondere darin, dass sie auf einer täglich bis zwei Uhr nachts besetzten Rezeption bestand, und zwar unabhängig davon, ob und wie
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