Nach dir die Sintflut
Rebecca.
Lisa nickte.
Rebecca aß mehr Toast und trank mehr Kaffee. Der Geschmack der Vergebung füllte ihre Mundhöhle und überzog ihren Gaumen mit einer klebrigen schwarzen Substanz. Die Vergebung lag schwer im Magen. Als auf dem Teller nur noch Krümel und im Becher nur noch Kaffeesatz zu sehen waren, schaute Rebecca auf. Lisa erhob sich und streckte die Arme aus. Die Schwestern umarmten sich. Während der Umarmung wurde Lisa immer dünner. Noch bevor Rebecca begriff, was vor sich ging, war Lisa verschwunden.
Rebecca wachte auf. Sie konnte die Vergebung immer noch schmecken. Sie zog sich Schuhe und Socken aus und stellte die nackten Füße auf den Boden. Minutenlang blieb sie auf der Sofakante sitzen und starrte in den Teppich. Den Tod ihrer Schwester erinnerte sie in zwei grundverschiedenen Versionen. Einmal hatte Lisa sich verdünnisiert, ein anderes Mal trug ein winziges Loch in der Aorta die Schuld. Beide Versionen schienen gleich glaubwürdig, und keine von beiden machte Rebecca traurig.
Zwölf
Das T-Bone-Experiment
Am nächsten Morgen wachte Rebecca mit steifem Hals und diagonalen Knautschfalten im Gesicht auf dem Sofa auf. Sie war zu spät für die Arbeit. Sie duschte und zog sich hastig an. Als sie das Haus durch den Hinterausgang verließ, um zu ihrem Auto zu laufen, hörte sie zu ihrer großen Überraschung einen Hund im Nachbargarten bellen. Der Hund war neu, trotzdem erinnerte sein Gebell sie an den Traum von Lisas Vergebung.
Rebecca hielt die Schlüssel in der Hand und fragte sich, wie sie auch nur einen Moment hatte glauben können, dass es sich um eine Erinnerung gehandelt hatte und nicht um einen Traum. Dennoch hatte sie die Details so deutlich vor Augen, als habe alles sich so zugetragen: das Gefühl des Flanellpyjamas auf ihrer Haut, der bittere Geschmack von Toast und Kaffee, die immer dünner werdende Schwester, die sich schließlich ganz auflöste. Rebecca wurde sehr traurig, und plötzlich überkam sie das Gefühl, etwas Wesentliches verloren zu haben.
Das Gefühl war so stark und schlug so unvermittelt zu, dass Rebecca ihre Handtasche durchwühlte, ohne zu merken, dass sie ihre Schlüssel schon in der Hand hielt. Sie kramte weiter, fand Geldbörse und Lesebrille auf Anhieb. Das Gefühl, etwas verloren zu haben, blieb. Dann bellte der Hund wieder, und Rebeccas Aufmerksamkeit wandte sich der Frage zu, wie sie zu ihrem Auto gelangen könnte.
Ihre Nachbarn hatten als einzige Anwohner der Straße darauf
verzichtet, den Garten mit einem Zaun zum Fußweg hin abzugrenzen. Das war ein Problem, weil Rebecca eine tiefsitzende Angst vor Hunden hatte und auf dem Weg zum Auto am Nachbargrundstück vorbeilaufen musste. Mit langsamen Schritten bewegte sie sich vorwärts. Sie schaute nach rechts und entdeckte den Hund, bevor der Hund sie entdeckt hatte. Der Hund schaute zum Haus. Er war an einen Baum in der Mitte des Grundstücks gekettet. Der Hund hatte Muskelpakete über den Beinansätzen, in seinem Nacken legte sich das Fell in Falten.
Der Hund schnüffelte in die Luft, sprang herum und knurrte. Rebeccas Angst wuchs. Die natürliche Fähigkeit des Hundes, Angst zu spüren, wurde noch gesteigert durch die Angst, die Rebecca auf ihn projizierte. Der Hund fletschte die Zähne und knurrte noch einmal. Rebecca blieb stehen. Sie erlebte das nicht zum ersten Mal. Es passierte immer, wenn sie einem Hund begegnete. Sie wusste, ihre beste Chance lag in einer realistischen Einschätzung der Abstände. Neben dem Baumstamm, an den der Hund gekettet war, konnte Rebecca mehrere Kettenwindungen liegen sehen, aber die Gesamtlänge der Kette war unmöglich zu erraten.
Da sie nicht wusste, ob der Hund bis auf den Fußweg kommen konnte, schloss Rebecca die Augen und stellte sich vor, sie trage Arbeitsstiefel. Sie stellte sich hellbraune Lederstiefel vor, abgewetzt und mit Stahlkappe. Durch die Ritzen an der Stiefelspitze konnte man es stählern blitzen sehen. Die silbrigen Linien funkelten in der Sonne, als Rebecca den rechten Stiefel anhob, ausholte und nach vorn schwingen ließ. Stiefel traf Hund. Der Kopf des Hundes wurde nach hinten geschleudert. Der Oberkiefer flog nach links, der Unterkiefer nach rechts. Der Hund winselte.
Rebecca öffnete die Augen und senkte den Blick. Der Hund wich einen halben Schritt zurück und duckte sich. Rebecca
lief los. Sie rechnete sich aus, dass sie in vier Schritten an ihm vorbei wäre. Ihre Füße fühlten sich schwer an. Rebecca schritt selbstbewusst aus, aber beim vierten
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