Nach dir die Sintflut
Teil)
Fünfzehn
Risse in der Windschutzscheibe
Aberystwyth war seit zwei Stunden auf dem Highway 400 unterwegs und hatte eben die Ortschaft Wood Landing hinter sich gelassen, als der Kieslaster vor ihr ein Steinchen verlor. Nie zuvor hatte Aby einen Gegenstand gesehen, der sich so bewegte. Der Stein schoss selbstsicher durch die Luft, so als kenne er sein Ziel. Er strahlte großes Selbstvertrauen aus. Neidvoll schaute Aby zu, sie studierte die Flugbahn genau. Dann landete der Stein in der Windschutzscheibe des weißen Honda Civic und schlug eine elliptische Macke hinein. Der Knall erschreckte Aby zu Tode.
Sie klammerte sich am Lenkrad fest, bis ihre Fingerknöchel zitronengelb hervortraten, gleichzeitig trat sie mit beiden Füßen auf das linke Pedal und lenkte das Auto auf die Kriechspur. Genauso wie der weiße Honda Civic kam auch Aby zu einem kompletten Stillstand. Ein großer Lastwagen donnerte vorbei und ließ das Auto beben. Aby hob einen zittrigen Zeigefinger und berührte die Macke. Ihre Haut verfärbte sich zu einem sehr dunklen Dunkelgrün. Sie hatte nicht gewusst, dass Glas zerbrechlich war, und plötzlich fühlte sie sich in dem weißen Honda Civic sehr schutzlos.
Sie stieg aus dem Auto, stützte sich an der geöffneten Fahrertür ab und betrachtete den Horizont. Direkt neben der Straße lag eine Wiese mit grasenden Kühen, die Aby ignorierten. Aby schaute über die Kühe hinweg und konzentrierte sich auf
einen Ahornbaum, der allein mitten auf der Weide stand. Mit kleinen Schritten stieg sie über die Böschung zur Wiese hinunter. Sie bemerkte eine Reihe von kurzen Holzpflöcken, die im Abstand von einem knappen Meter nebeneinanderstanden und durch eine dünne Schnur miteinander verbunden waren. Die Schnur stellte ein scheinbar leicht zu überwindendes Hindernis dar, aber als Aby sie berührte, fühlte sie einen schmerzhaften Stich, schmerzhafter noch als der einer Feuerqualle. Sie ließ die Schnur los. Sie betrachtete den Zaun. Sie versuchte es ein zweites Mal und griff noch fester zu, was den Stich aber umso schmerzhafter machte.
Aby sah sich um und bemerkte die hohen Holzmasten neben der Straße. Kein anderes Objekt in ihrer Sichtweite ragte höher in den Himmel auf, von dem Ahornbaum mal abgesehen. Aby kraxelte die Böschung wieder hinauf und näherte sich dem nächstgelegenen Mast. Hoch oben waren die Masten durch Seile verbunden. Vorsichtig streckte Aby die Hand aus und berührte den Mast mit dem Zeigefinger. Als sie keinen Stich fühlte, füllte Aby ihre Lungen mit Luft, warf sich auf den Rücken und rutschte über den Boden, bis sie mit dem Kopf an den Mast stieß.
Wenn Aquatikern alles zu viel wird, suchen sie das höchste Objekt in der Nähe auf, werfen sich auf den Rücken, drücken sich mit dem Kopf an und schauen himmelwärts. Dieses Ritual wird kalleínn genannt und soll den Gläubigen daran erinnern, wie klein er in Wahrheit ist - und seine Probleme folglich auch. Den aquatischen Schriften zufolge ist es ein Zeichen von Überheblichkeit, die eigenen Probleme als riesig, übermächtig und unüberwindlich zu betrachten.
Aby bog den Nacken durch und schaute zur Mastspitze hinauf. Obwohl die Höhe des Mastes ihr tatsächlich den Eindruck vermittelte, recht klein zu sein, dauerte es eine Weile, bis
das Gefühl sich auf ihre Probleme übertragen ließ. Aby starrte unverzagt hinauf. Dann stand sie wieder auf, weil sie wusste, dass sie, tat sie es nicht sofort, niemals wieder in den weißen Honda Civic steigen würde. Ihre Schritte waren unsicher, aber sie erreichte das Auto, ohne hinzufallen.
Aby ignorierte den Druck in ihrer Magengegend, startete den Motor, legte den Gang ein und trat aufs Gaspedal. Der weiße Honda Civic beschleunigte auf der Kriechspur. Aby warf einen Blick in den Seitenspiegel und entdeckte ein herankommendes Auto. Es fiel ihr immer noch schwer, die Geschwindigkeit weit entfernter Objekte einzuschätzen. Weil das Auto im Spiegel so klein aussah, trat Aby das Gaspedal durch. Der Motor jaulte auf. Die Reifen drehten auf dem Schotter durch. Das Lenken fiel Aby schwer. Der Tacho zeigte eine Geschwindigkeit von sechzig Stundenkilometern an. Aby wusste, dass sie auf einhundert kommen musste. Das Auto im Rückspiegel schob sich heran. Der Tacho zeigte achtzig Stundenkilometer. Genug, fand Aby. Sie riss das Lenkrad nach links, und sobald die Reifen auf dem Asphalt Halt fanden, geriet das Auto ins Schleudern.
Der weiße Honda Civic rutschte über beide Fahrspuren, bis die
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