Nach dir die Sintflut
Wasserflasche fiel in das rechteckige Loch, und der Mann ließ Aby los.
Aby packte die Flasche, öffnete sie mit den Zähnen und leerte sie auf einen Zug. Der Mann warf Münzen nach. Wieder drückte er auf den Knopf. Eine zweite Flasche fiel herunter. Wieder öffnete Aby sie mit den Zähnen und kippte den Inhalt herunter. Sechs Flaschen später sah Aby zu dem Mann auf.
»Ich bwauche mehw«, sagte sie.
» Ég hawe keine allir fleiri breyting .«
» Ekki a Hli∂afgo∂?«
Der Mann riss sich den Schal vom Hals und blähte seine Kiemen auf.
»Ást.«
»Aberystwyth.«
» Vi∂ öxl fá hé r raus!«
Ásts direkte Art, sie auf ihre missliche Lage hinzuweisen, dämpfte Aberystwyths Freude darüber, einen der ihren getroffen zu haben. Zum ersten Mal sah sie sich bewusst in der Raststätte um. Die Gäste starrten sie immer noch mit weit aufgerissenem Mund an. Aby spürte, dass das allgemeine Erstaunen
bald in Entsetzen umschlagen würde. Und ausgerechnet hier, zweihundertzehn Meter über dem Meeresspiegel, wo Aby Luft atmete und ihre viel zu trockene Haut sich schuppte, schlug bei ihr zum ersten Mal im Leben der Blitz ein. Aby ließ ihren Blick von Ásts Füßen bis zu seinem fraglos attraktiven Gesicht hochwandern und beschloss, ihm zu vertrauen. Dabei blieb ihr, ehrlich gesagt, keine Wahl.
» Hva∂a öxl vi∂ gera?«, fragte sie.
» Keyra !«
Aby nickte, und gemeinsam ergriffen die beiden Riesenfrösche die Flucht aus der Raststätte.
Niemals wird ein Aquatiker den Zufall in Frage stellen. Das Gegenteil trifft zu - je größer der Zufall, desto größer die Bereitschaft des Aquatikers, ihn für Vorsehung zu halten. Diese Denkweise wird Vilja genannt, was sich als »Gottesschwindel« übersetzen lässt. Sie basiert auf der Annahme, Gott nehme als Zufall getarnt auf das Leben seiner Kreaturen Einfluss. Wenn zufälligerweise etwas völlig Abwegiges passiert, handelt es sich eben nicht um Zufall, sondern um Gottes Hand, die die Ereignisse im Leben eines Menschen Seinem Willen gemäß anordnet.
Das Konzept von Vilja ist eng verbunden mit Tibrt , was sich wortwörtlich mit »Strömungszeit« übersetzen lässt. Eine poetischere Übertragung wäre »Zeit der Flüsse«, weil sich die Strömungen am Grund der Ozeane wie Flüsse verhalten. Der Aquatismus kennt fünf, nicht vier Jahreszeiten. Fins , die Zeit des Wachstums, entspricht dem Sommer. Gsell ähnelt dem Herbst, wenn alles verwittert. Virth ist der Winter, wenn alles schläft, und Zre ist der Frühling, die Zeit des Neubeginns. Die fünfte Jahreszeit, an die nur die Aquatiker glauben, heißt Tibrt , Zeit der Flüsse.
Während der Zeit der Flüsse müssen sich alle lebendigen
Wesen in die Strömungen begeben und davontragen lassen - an einen neuen Ort, an den Ort, an den sie gehören: der Ort, an dem die Vorsehung sie sieht. Die Zeit der Flüsse kann jederzeit anbrechen. Man kann sie dreimal im Jahr erleben, oder dreißig Jahre lang gar nicht. Sie kann einen selbst ereilen und den Sitznachbar verschonen.
Am wichtigsten ist, dass die Zeit der Flüsse andauert, bis man den neuen Ort erreicht hat. Wenn man in die Strömung geht und sich widerstandslos bis ans Ziel treiben lässt, dauert die Zeit der Flüsse nur einen Nachmittag; fürchtet man sich jedoch vor Veränderungen, wehrt man sich und klammert sich an den Felsen fest, wird sie dauern und dauern. Sie endet erst, wenn der Körper sich entspannt und der Klammergriff sich gelöst hat, wenn die Hände abgerutscht sind und der Strom die Person an den neuen Ort getragen hat.
Aby dachte nicht an die Zeit der Flüsse, was sie vielleicht hätte tun sollen, als sie sich aus Ásts Laken wand. Sie war viel zu beschäftigt mit - und in der Tat fasziniert von - ihrer zunehmenden Fähigkeit, auf festem Untergrund zu gehen. Als sie aus der Raststätte geflüchtet waren, war Aby gerannt - nicht unbedingt schnell, aber ohne hinzufallen und fast ohne zu schwanken. Ein großer Fortschritt für jemanden, der vor nur acht Tagen zum ersten Mal entwässert hatte. Aby konnte nicht anders, als stolz auf sich selbst zu sein.
Aby blieb im Bett liegen und musterte den Raum, in dem sie laut Vilja , davon war sie überzeugt, aufwachen sollte. Sie sah Ásts Brieftasche auf dem Nachttisch und sein schwarzes Hemd, das er über die Lehne eines Holzstuhls gehängt hatte. Auf der Kommode lag ein Haufen Münzen, aus der halb geöffneten Schublade quollen Socken. Aby wunderte sich ein wenig darüber, wie perfekt er sich dem Leben der
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