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Nach dir die Sintflut

Nach dir die Sintflut

Titel: Nach dir die Sintflut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrew Kaufman
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Räder auf der anderen Seite wieder in den Schotter eintauchten. Die Räder drehten durch, Steine krachten gegen den Unterboden. Die rechte Hälfte des Honda Civic befand sich auf der Straße. Das Auto im Rückspiegel wurde immer größer. Aby trat das rechte Pedal durch, aber der weiße Honda Civic wollte nicht beschleunigen. Aby zog die Schultern ein, schloss die Augen und hörte ein langgezogenes, monotones Hupen.
    Es gab keinen Aufprall. Aby öffnete die Augen und sah das Auto auf der rechten Spur an sich vorbeischießen. In ihrer Panik hatte sie nicht bedacht, dass das Fahrzeug sie einfach überholen würde. Aby fuhr langsamer und lenkte nach rechts, bis sie wieder Asphalt unter allen vier Reifen hatte. Nun, da die
Gefahr gebannt war, konzentrierte sie sich wieder auf die Macke in der Windschutzscheibe. Im selben Moment tauchte die Ausfahrt Nummer 168 auf, und Aby nahm sie, ohne zu wissen, wohin sie führte.
    Sie hatte sich entschieden, zum ersten Mal von Pabbis Wegbeschreibung abzuweichen. Ihre Finger schmerzten, und sie lockerte den Griff ums Lenkrad. Nachdem sie den Highway verlassen hatte, kreuzte sie für eine Weile ziellos umher und bog in jede Straße ab, die von Häusern wegzuführen schien. Um 17:57 Uhr überquerte sie einen Fluss. Die erschöpfte Aby beschloss, die Nacht hier zu verbringen. Sie hielt am Straßenrand.
    Aby stieß die Fahrertür auf und drehte sich auf dem Sitz zur Seite. Ihre Beine waren so steif, dass sie ihre Hände benutzen musste, um sie herauszubekommen. Sie hängte die Beine hinaus und streckte sie durch. Noch im Sitzen zog sie sich Hose, Hemd und Unterwäsche aus. Mit winzigen Schritten wankte Aby aufs Flussufer zu. Der Boden war uneben. Aby trat auf einen großen Stein und verlor das Gleichgewicht. Woraufhin sie einen Fuß vorschieben musste. Und noch einen. Woraufhin sie stolperte und fiel, aber sie war dicht genug am Ufer, um sich ins Wasser zu stürzen. Im selben Augenblick kehrte ihre Anmut zurück.
    Aby tauchte ab. Sie schlug ein paar Purzelbäume. Sie schwamm mit dem Strom, wurde immer schneller und strich über die Felsen, an denen sie vorbeikam. Sie stellte sich gegen die Strömung, rollte sich auf den Rücken und schwebte dicht unter der Wasseroberfläche. Sie klappte ihre Kiemen auf und zu. Zum ersten Mal in ihrem Leben füllten sich ihre Lungen mit Süßwasser.
    Pabbi hatte sie gewarnt. Die größte Herausforderung bestehe nicht darin, Luft zu atmen, große Distanzen zu überwinden oder ein Auto zu steuern, und nicht einmal ihre Hautfarbe wäre
ein Problem, da das Grün verblassen würde, je länger Aby vom Salzwasser getrennt wäre. Nein, das größte Hindernis wären ihre Beine. Pabbi hatte ihr geraten, sie regelmäßig durchzustrecken, sie nicht zu überfordern und ihnen nie, niemals zu vertrauen. Aber Aberystwyth hatte nicht auf ihn gehört. Während sie unter der Wasseroberfläche trieb, fürchtete Aby weniger um ihre Seele als um ihre Beine. Plötzlich wurde sie traurig. Ihren siebenundachtzigsten Geburtstag hatte sie sich anders vorgestellt.

Sechzehn
    Vatn auk tími
    Laut der aquatischen Bibel sind in der gesamten entwässerten Welt nur die Wolken heilig. Dafür gibt es drei Gründe. Erstens berühren Wolken nie den Boden. Zweitens sind die Wolken die Quelle allen Wassers. Drittens, und dieser Grund ist der mit Abstand wichtigste, steigt die Seele - oder upplifa - eines sterbenden Hli∂afgo∂ in der Form von Wasserdampf in die Wolken auf. Sobald sie oben angekommen ist, nimmt die upplifa die Eigenschaften der jeweiligen Wolke an. Wenn die Seele als Regen auf die Erde zurückfällt, prägt die Herkunftswolke das neue Leben der upplifa in beträchtlichem Maße.
    Aus diesem Grund musste Aby, als sie am Morgen des 23. August mit süßwassergefüllten Lungen in einem ihr namentlich nicht bekannten Fluss aufwachte und die Wolken sah, sofort über ihren eigenen Tod nachdenken. Sie trieb knapp unter der Wasseroberfläche, beobachtete die Wolken, die langsam über den Himmel zogen, und fragte sich, wie es wäre, von diesen Wolken wiedergeboren zu werden. Die Wolken waren klein und kompakt, und Aby stellte sich vor, dass sie genau so sein würde - ein Mensch, der sich zu den kleinen, kompakten Dingen hingezogen fühlt. Sie atmete eine große Menge Wasser ein und blies es kraftvoll durch den Mund wieder aus, so dass es die Oberfläche durchbrach und als Fontäne gen Himmel spritzte.
    » Vatn auk tími «, sagte sie, » vatn auk tími .« Dann machte sie sich daran, aus

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