Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Nach dir die Sintflut

Nach dir die Sintflut

Titel: Nach dir die Sintflut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrew Kaufman
Vom Netzwerk:
Tresen und las in einer Zeitschrift. Er trug die Frisur, die Lewis vor dem letzten Haarschnitt auch getragen hatte.
    Lewis blieb vor dem Regal mit den Neuerscheinungen stehen und suchte nach einer bestimmten CD. Sie war nicht da. Er ging zur Sektion »I« und schnippte alle CDs von vorn bis hinten durch. Da war sie auch nicht. Lewis steckte die Hände in die Taschen und näherte sich zögerlich dem Tresen, hinter dem der Verkäufer stand und las.
    »Ähem«, sagte Lewis, »anscheinend kann ich eine ganz bestimmte Platte nicht finden.«
    »Ach ja?«, sagte der Verkäufer. Er legte den Zeigefinger auf die Seite, die er gelesen hatte, und kratzte sich den ungepflegten Bart.
    »The Impostors?«
    Der Verkäufer starrte Lewis an. Lewis wartete darauf, erkannt zu werden, aber nichts passierte. Dass es nicht mehr als einen Haarschnitt und ein paar neue Klamotten gebraucht
hatte, um sich zu tarnen, verlieh Lewis ein Gefühl der Sicherheit, gleichzeitig machte es ihn traurig. Der Verkäufer stieß ein kurzes, verächtliches Lachen aus, nahm den Finger von der Seite und las weiter.
    »Versuch’s im Einkaufszentrum«, sagte er.
    »Wie bitte?«
    »Wir führen so was nicht.«
    »Du klingst stolz.«
    »Bin ich auch.«
    »Worauf?«
    Der Verkäufer hob den Kopf, klappte die Zeitschrift zu und legte die gefalteten Hände darauf. Er beugte sich vor. »Weil das keine Musik im eigentlichen Sinn ist«, sagte er, »sondern ein Produkt.«
    »Das Album ist in den Top Five!«
    »Eben.«
    »Weltweit.«
    »Hör mal, ich will jetzt nicht elitär rüberkommen«, sagte der Verkäufer und hob beide Hände. »Du kannst hören, was dir gefällt. Aber mal im Ernst, diese Band ist eine Eintagsfliege und schon wieder auf dem absteigenden Ast. Ist ja in Ordnung, wenn du Pop hören willst, bitte schön, aber warum versuchst du es nicht mit Abba? Oder den Beach Boys? The Cars? Natürlich nur Greatest Hits . Wirklich, da hätte ich tolle Empfehlungen für dich.«
    »Wie wäre es mit ein wenig Anstand?«
    »Hey, Mann, warte, ich …«
    »Weißt du, dass sie gestorben ist?«
    »Klar, hab ich gehört. Komische Sache, was?«
    »Dann solltest du traurig sein«, brüllte Lewis, »du solltest sehr, sehr traurig sein!«
    Plötzlich konnte Lewis nicht mehr aufhören zu brüllen. Sein
ganzer Körper brüllte. Seine Fäuste brüllten, seine Ohren brüllten. Als er sich umdrehte und losrannte, brüllten seine Füße den Boden an. Lewis stieß die Tür auf und verschwand.

    Lewis hätte seine Frau niemals kennengelernt, wenn ihm seine Schwester in den Weihnachtsferien seines letzten Schuljahres nicht die Haare geschnitten hätte. Wie bei allen Geschwistern war auch das Verhältnis zwischen Lewis und seiner Schwester von einer seltsamen Mischung aus Neid, Feindseligkeit und Loyalität geprägt. Aber als Joanne nach Vancouver gezogen war, um im Salon einer Freundin als Friseurin zu arbeiten, stellte Lewis überrascht fest, dass sie ihm fehlte. Noch überraschter war er, als er erfuhr, dass Joanne ihn ebenfalls vermisste. Als sie über die Feiertage nach Hause kam, blieben sie zusammen auf, tranken Rum und Eierpunsch und schauten die Weihnachtssendungen, bei denen sie sich früher immer gestritten hatten. Die Nostalgie durchdrang alles, und am späten Heiligabend, als ihre Eltern schon ins Bett gegangen waren, fragte Joanne, ob sie Lewis die Haare schneiden dürfe.
    Lewis sah sich nicht in der Lage abzulehnen. Er setzte sich auf einen Küchenstuhl, und Joanne legte ihm ein Geschirrtuch um. Sie fragte ihn nicht, welche Frisur er sich wünschte, sie schnitt einfach drauflos. Die abgeschnittenen Haare rutschten ihm in den Nacken, und von diesem Moment an war jede Art von Veränderung für Lewis untrennbar mit juckender Haut verbunden.
    Joanne ließ ihn nicht zuschauen. Schließlich zog sie ihm mit theatralischer Geste das Geschirrtuch von den Schultern. Lewis rannte nach oben. Er schloss sich im Badezimmer ein. Er machte die Augen zu. Er stellte sich vor den Spiegel, holte tief Luft und öffnete langsam, ganz langsam die Augen. Joanne hatte ihm eine Frisur verpasst, die Lewis sich nie im Leben
selbst ausgesucht hätte. Sie war hip und modern. Sie war alles, was er nicht war, aber allzu gern sein wollte. Er rannte wieder nach unten und sagte ihr - ganz ohne die Ironie, die ihre Unterhaltungen normalerweise würzte -, dass er nie ein schöneres Weihnachtsgeschenk bekommen habe. Was gut war, schließlich hatte Joanne kein anderes parat.
    Am nächsten Montagmorgen trug Lewis

Weitere Kostenlose Bücher