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Nach dir die Sintflut

Nach dir die Sintflut

Titel: Nach dir die Sintflut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrew Kaufman
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gedrängt. Lewis stand direkt neben Lisa, und sie waren ein Stockwerk gefahren, als sie ihn wiedererkannte.
    »Hey! Du bist’s!«
    »Du bist ein Fahrradkurier?«
    »Scharf beobachtet, Lewis.«
    Das Gespräch geriet ins Stocken, ebenso der Aufzug. Die Türen öffneten sich, und zwei Männer stiegen ein. Lisa und
Lewis drückten sich an die Wand. Er fühlte ihren Atem in seinem Gesicht. Er hob einen Zeigefinger und streichelte ihr sanft über die Wange, dann griff er mit der rechten Hand nach ihrem Ellenbogen und drückte zu. Sein Griff wurde immer fester. Alle Farbe wich aus seinem Gesicht, und plötzlich war es bedeutend einfacher zu glauben, diese Frau sei Gott, als zu akzeptieren, dass ihn ein riesiger grüner Frosch nach dem Weg gefragt hatte. Oder dass ihm seine Frau in der Hotelsuite erschienen war, um ihm Ratschläge zu erteilen. Diese Frau war grobschlächtig und vulgär, aber zweifellos echt, und es schien Lewis viel einfacher, sich ihrem Wahn anzuschließen, als in seinem eigenen zu verharren.
    »Mehr Mühe kannst du dir nicht geben?«
    »Lewis, du tust mir weh.«
    »Kannst du dir wirklich nicht mehr Mühe geben?«
    »Wovon redest du?«
    Schon hatten sich sämtliche Schultern im Aufzug verspannt. Als die Türen sich öffneten, strömten die Mitfahrer hinaus wie ein Fischschwarm. Obwohl draußen Leute warteten, stieg keiner zu. Die Türen schlossen sich, und Lewis und Lisa waren allein.
    »Redest du von meinem Job als Fahrradkurier? Weil, der ist eigentlich ganz gut bezahlt …«
    »Ich rede von allem.«
    Lisa riss die Augen auf und kniff sie dann zusammen. Sie schüttelte Lewis’ Hand ab, streckte den Zeigefinger aus und stach kurz und präzise auf den Türöffner. Die Fahrstuhltüren glitten auf. Sie packte Lewis bei der Hand und zog ihn mit sich, durch die Lobby und zur großen Glastür hinaus. Lewis’ Hand wurde taub. Er musste sich beeilen, um Schritt zu halten. Direkt vor dem Gebäude, am Kopf einer breiten Betontreppe, blieb Lisa stehen.

    »Lass mich dir was über das Christentum erzählen«, sagte sie.
    »Ich bin kein Christ …«
    »Das Einzige , was in eurem Buch stimmt, und jetzt kommt’s, pass auf«, sagte Lisa und schlug Lewis unvermittelt auf den Hinterkopf, »ist, dass der Mensch nach meinem Ebenbild geschaffen wurde. Kapiert?«
    »Nein. Nein, das kapiere ich nicht«, sagte Lewis, auch wenn es eher nach »Meim, baff verftehe if nift« klang, weil er sich bei dem Schlag gegen seinen Kopf auf die Zunge gebissen hatte.
    »Sieh mich an«, sagte Lisa. »Ich bin schwach und gebrechlich. Und deswegen bist du es auch. Deswegen ist die ganze Welt so.«
    Lewis sagte kein Wort, als er auf der Treppe vor dem Commodity Exchange Tower stand und die Straße betrachtete. Auf dem Gehsteig vor ihnen standen ein untröstliches Kleinkind und eine Mutter mit gerissenem Geduldsfaden. Lewis hatte Mitleid mit dem Kind und mit der Mutter. Er wollte sich die Ohren zuhalten, bevor das Geschrei noch lauter wurde, bemerkte aber, dass das gar nicht nötig war. Ein Omnibus hielt, und Lewis hörte noch das Quietschen der Bremsen, nicht aber, wie die Türen sich öffneten und die Leute ausstiegen. Die Unterhaltung der zwei Büroangestellten, die hinter ihnen aus dem Gebäude gekommen waren, verklang. Er sah Lisas Gesicht und dass ihr Mund sich bewegte, aber er hörte ihre Stimme nicht. Er hörte gar nichts mehr.

Achtundzwanzig
    Unverständlichkeit ist ein Privileg
    Lewis war seit neunundzwanzig Stunden taub. Die letzten drei davon hatte er an der Bar des Palmengartens verbracht, wo er den Pianisten nicht hören konnte, was er wunderbar fand. Nicht mehr hören zu können bedeutete, nicht mehr hören zu müssen. Er war nicht länger gezwungen, das doppelte schrille Kreischen von Busbremsen mitanhören zu müssen, oder das unverwechselbare Geräusch gleitender Aufzugtüren, oder das marode Klimpern eines leicht verstimmten Klaviers, an dem ein leicht angetrunkener Mann sein Talent verschwendete. Die stumme Welt war wie ein Fernsehschirm ohne Ton, den Lewis nach Wunsch betrachten oder ignorieren konnte. Er fühlte sich in dieser absolut stillen Welt absolut glücklich, bis er, gerade hatte er sein Glas auf den Tresen gestellt, die Miniversion seiner Frau in seinem Drink entdeckte.
    Lewis schaute zu, wie sie an die Oberfläche schwamm und über die Eiswürfel bis an den Glasrand kletterte. Sie sprang, landete auf dem Tresen und rannte zu einem mit Zahnstochern gefüllten Martiniglas. Ihre Fußabdrücke sahen aus wie winzige

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