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Nach dir die Sintflut

Nach dir die Sintflut

Titel: Nach dir die Sintflut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrew Kaufman
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die Scheibe zu legen war kühler und bedeutend bequemer. Aby fragte sich, warum sie nicht schon früher darauf gekommen war. Sie hatte unterwegs vier von fünf Nächten zusammengefaltet auf der Rückbank oder mit ans Armaturenbrett gequetschten Beinen verbracht. Aber ihre neue Liegeposition war nicht einfach nur bequemer: Die leichte Anwinkelung ihres Kopfes erlaubte es Aby, die Sterne zu betrachten.
Pabbi hatte sie ihr in allen Einzelheiten beschrieben, aber sie hatte alles vergessen. Und nun war sie von dem unerwarteten Anblick ganz überwältigt.
    Die klare, wolkenlose Prärienacht war nicht weniger schön als alles, was Aby unter Wasser gesehen hatte. Sie fing an, die Sterne zu zählen, gab aber schnell auf. Während ihre Beine von der Motorhaube baumelten und sie in den Himmel starrte, erreichte Aberystwyth zum ersten Mal im Leben einen ganz bestimmten Zustand: Thrum .
    Die Aquatiker glauben, im meditativen Zustand des Thrum sei die Distanz zur Erleuchtung verringert. Das Thrum stellt gleichermaßen eine metaphysische Abkürzung dar. Dieser höchst begehrte, aber praktisch unmöglich zu erreichende Zustand erlaubt es, das eigene Leben mit den Augen eines Unbeteiligten zu betrachten. Während Aby auf der Motorhaube des gestohlenen Honda lag und gen Himmel starrte, konnte sie ihre Sorgen und Nöte, ihre Erfolge und Fehlschläge betrachten, als habe eine fremde Person sie erlebt. Zum ersten Mal, wenn auch nur kurz, nahm Aby ihr Leben nicht aus der Perspektive der Hauptfigur wahr, sondern aus der des Publikums.
    Sie konnte sich an das jeweilige Ende ihrer wichtigsten Liebesbeziehungen erinnern und unvoreingenommen beurteilen, wo ihr Anteil und wo der ihres Ex-Partners lag. Sie überdachte berufliche Entscheidungen, gescheiterte Freundschaften und verpasste Gelegenheiten. Sie sah ihre Fehler, ohne zusammenzuzucken. Sie warf einen Blick auf ihren eigenen Charakter. Handlungsmuster, die sie normalerweise dazu brachten, sich schwach und erbärmlich zu fühlen, erschienen ihr plötzlich schlicht und einfach verbesserungswürdig. Abys Haut nahm einen tiefen, satten Grünton an, der in der mondlosen Prärienacht fast schwarz wirkte. Und dann dachte sie über ihre Mutter nach.

    Nach der Exkommunikation ihrer Mutter war für Aby nichts mehr wie vorher gewesen. In einem so hinterozeanischen Kaff wie Nowwlk festzuhängen war interessant gewesen, solange der Ruhm ihrer Mutter wuchs; als Ausgestoßene hielt sie es dort jedoch kaum aus. Trotzdem hatte sich ihre Lage nicht verbessert, als sie nach Alisvínbær umgezogen waren.
    Selbst in einer so großen Stadt war ihnen der schlechte Ruf der Mutter vorausgeeilt. Ihre Eltern fanden beide keine Arbeit. Aby musste zusehen, wie sie immer häufiger stritten und sich immer weniger Mühe gaben, es nicht vor Aby zu tun. Bald hatten sie es sich zur Gewohnheit gemacht, vor dem Fernseher zu essen. Und dann kam ihre Mutter immer später nach Hause. Obwohl sie es nicht zugeben wollten, merkte Aby, dass ihre Eltern in getrennten Betten schliefen. Irgendwann hielten sie sich kaum noch im selben Zimmer auf, und wenn es unvermeidlich wurde, war ihr Umgang steif und förmlich.
    Eines Nachts wachte Aby auf, weil ihre Eltern sich stritten. Ihre Stimmen klangen lauter und wütender als sonst. Aby kroch aus dem Bett, schwamm zur Treppe und lauschte. Als ihre Eltern im Flüsterton weiterstritten, ließ sie sich auf den Treppenabsatz gleiten. Sie konnte die wenigsten Worte verstehen, aber eines davon war »entwässert«. Aby kehrte ins Bett zurück, konnte aber nicht mehr schlafen.
    Als Aby Tage später nach Hause kam, standen zwei Koffer direkt neben der Tür. Einer gehörte ihrer Mutter. Der zweite gehörte Aby. Aby betrat den Flur und knallte die Tür hinter sich zu, woraufhin ihre Mutter vom Obergeschoss heruntergeschwommen kam. Margaret sprach kein Wort. Sie betrachtete die Schwimmhäute zwischen ihren Fingern. Sie dümpelte dicht neben ihrer Tochter auf und ab, aber beide starrten wortlos zu Boden.
    Margaret hob als Erste den Kopf, Aby gar nicht.

    »Aby, ich muss gehen«, sagte Margaret.
    »Du darfst dir das nicht gefallen lassen.«
    »Es geht nicht um die anderen. Es geht um mich und was ich tun muss.«
    »Was ist mit uns?«
    »Ich möchte, dass du mitkommst.«
    »Auf keinen Fall.«
    »Warum nicht?«
    »Ich kann nicht glauben, dass du mir das antust!«
    »Es geht hier nicht um dich.«
    »Sollte es aber.«
    »Meinst du, es fällt mir leicht?«
    »Ja«, sagte Aby, und obwohl sie die Arme

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