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Nach Hause schwimmen

Titel: Nach Hause schwimmen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carl Hanser Verlag
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den Kochlöffel entgegen wie einen Blumenstrauß, und als der Junge irritiert zurückwich, lachte er und stampfte mit dem Fuß auf. »Genau so hat deine Mutter auch reagiert!«
    Sune erzählte gerade, dass Lennard ganze fünf Wochen brauchte, bevor er Maureen zum ersten Mal küssen durfte, als Ulrika hereinkam. Sie war beinahe so groß und breit wie Sune, und nach ihrem Eintreten war in der engen Küche kein Platz mehr. Sune stellte ihr Wilbur vor, der zwar froh war, dass ihm Details zum ersten Kuss seiner Eltern erspart blieben, aber dennoch darauf brannte zu erfahren, wie ihr gemeinsames Leben vor seiner verhängnisvollen Geburt weiter verlaufen war. Ulrika war Sunes Freundin und konnte, nachdem sie von Wilburs Suche nach dem Vater hörte, einen Tränenausbruch nur vermeiden, indem sie inholprigem Englisch etwas von vergessenen Einkäufen murmelte und aus der Küche floh. Nach einem Moment des Zögerns verwarf Sune den Gedanken, ihr zu folgen, und horchte lächelnd auf die schweren Schritte, die das hölzerne Treppenhaus erschütterten, und das dumpfe Schlagen der Haustür. »Frauen«, sagte er, und Wilbur nickte, als wisse er Bescheid.
     
    Der Laden unter Maureens Wohnung gehörte Salvador Gustavo Onetti, einem vierundsiebzigjährigen Argentinier, der in den dreißiger Jahren mit seinen Eltern nach Philadelphia gekommen war, fünfzehn Jahre lang im Hafen gearbeitet und schließlich sein eigenes Geschäft eröffnet hatte. Der kleine glatzköpfige Mann mit Bauchansatz und einem Gesicht, das noch immer beinahe ungebührlich hübsch war, bewohnte mit seiner zwölf Jahre jüngeren, aus einer mexikanischen Einwandererfamilie stammenden Frau Sofia das Erdgeschoss des Hauses, in dessen vorderem Teil sich der inzwischen geschlossene Laden befand. Hinter dem ehemaligen Verkaufsraum lagen drei Zimmer, von denen das eine, die Küche, auf einen Innenhof ging, in den gerade genug Sonnenlicht fiel, dass Sofias Gemüse und die Blumen gedeihen konnten.
    Lennard lernte das Ehepaar lange vor dem Tag kennen, an dem er Maureen zum ersten Mal küsste. Er hatte es als gutes Zeichen betrachtet, dass Maureen auch dann, als er sie fast täglich besuchte, viel Zeit mit den beiden verbrachte, denn Salvador und Sofia ließen keine Gelegenheit aus, liebevoll spöttische Bemerkungen über Lennards offensichtliche Verliebtheit und Maureens gespielte Gegenwehr zu machen. Zudem war das alte Paar der unumstößliche Beweis dafür, dass die Liebe tatsächlich die stärkste Macht der Welt war und dass die einzige Möglichkeit, ein glückliches Leben zu führen, darin bestand, es mit jemandem zu teilen.
    Als der Laden noch geöffnet war, hatte Sofia darin Kunsthandwerk verkauft, Quilts, die sie selber nähte, Vasen, Kelche und Schalen aus ei ner Glasbläserei in Virginia, Silberschmuck aus Arizona, Teller, Tassen und Schüsseln aus einer mexikanischen Töpferei, Weidenkörbe, Tischsets aus Schilf, handgeschöpftes Papier und natürlich die Schalen, Truhen und Möbel aus Kirschbaum, Rosenholz, Eukalyptus und Zeder, die Salvador in seiner zwei Blocks entfernt liegenden Werkstatt hergestellthatte. Mit dem langsamen Untergang des Quartiers waren auch immer weniger Kunden gekommen, und als Sofia fand, sie habe in ihrem Leben genug Stoffreste zu Tagesdecken verarbeitet, wurde ein Ausverkauf durchgeführt, ein Fest gefeiert und schließlich die Schaufensterscheibe mit braunem Papier verklebt. Das war über drei Jahre her, und der ehemalige Verkaufsraum diente den Onettis jetzt als Vorratskammer, Abstellraum und, unter Zuhilfenahme von Paravents und einem Klappbett, als Notunterkunft für Gäste, die entweder zu mittellos für ein Hotelzimmer oder zu betrunken zum Gehen waren.
    Dass Salvador auch nach der Schließung des Ladens noch jeden Tag für mehrere Stunden in seine Werkstatt ging, wusste Lennard, aber was der alte Mann dort machte, erfuhr er erst bei einem Besuch in der ehemaligen Reifenfabrik, die, wenn es nach den halbherzigen Plänen der Stadtverwaltung gegangen wäre, schon seit Jahren hätte abgerissen werden sollen, um einem gutgemeinten und zu keiner Zeit auch nur annähernd finanzierten Projekt für Sozialwohnungen Platz zu machen. Die beiden Stockwerke des schmutziggrauen Klinkergebäudes waren in großzügige Einheiten unterteilt und an Künstler, Handwerker, Antiquitätenhändler und Leute mit Modelleisenbahnen und außer Kontrolle geratenen Bierdeckelsammlungen vermietet.
    Lennard hatte erwartet, in Salvadors Zelle knorrige Schalen und

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