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Nach Hause schwimmen

Titel: Nach Hause schwimmen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carl Hanser Verlag
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polierte Kommoden mit marmorgleichen Maserungen und kleine, nach Leinöl und Hustenbonbons riechende Truhen zu finden, wie der alte Mann sie früher für den Laden hergestellt hatte und mit denen die halbe Wohnung gefüllt war. Doch was sein Freund ihm an einem Nachmittag im September des Jahres 1972 zeigte, überraschte und überwältigte ihn dermaßen, dass er dieses Datum als dasjenige in Erinnerung behielt, an dem für ihn, einmal mehr, ein neues Leben begann.
    Salvador baute in seiner fensterlosen und beinahe schalldichten Werkstatt Musikinstrumente aus Holz. In seinen schmalen Händen entstanden Geigen und Bratschen und Violoncellos, ein bis zwei Stück pro Jahr, ohne Eile und mit der Hingabe und Sorgfalt eines Mannes, der die Welt um sich vor die Hunde gehen sah und dieser Tatsache etwas entgegenhalten wollte, das Schönheit besaß. Der Raum, in dem Salvador Gustavo Onetti der Zeit trotzte, war weiß gestrichen und mit ockerfarbenemLinoleum ausgelegt. Unter der Decke spannten sich Bahnen aus Tüll, die das kalte Licht der Neonlampen wärmten, und an den Wänden hingen zwei von Sofias Quilts, vergilbte Baupläne und Skizzen, eine schmutzige und fadenscheinige argentinische Flagge, ein großformatiges Ölbild, das eine Prärielandschaft mit Bisons jagenden Indianern auf Pferden zeigte, Fotos von Möbeln und Menschen, ein Fächer aus geflochtenem Bambus, ein Feuerlöscher und darüber der Fluchtplan für den Fall eines Brandes, ein grauer, mit Leimflecken verzierter Kittel an einem Haken und ein gelber Regenschirm.
    Das alles sah Lennard aus den Augenwinkeln, aber was er wirklich und mit allen Sinnen wahrnahm, war der offene Rumpf eines Cellos, der auf dem massiven Arbeitstisch lag, die Werkzeuge, die anzufassen er noch nicht wagte, und die aus verschiedenen Holzarten gefertigten Teile, die darauf warteten, ein Ganzes zu ergeben, und von denen er noch nicht wusste, dass sie Schnecke und Wirbel und Sattel und Stachel genannt wurden. An diesem Abend ging Lennard in Maureens Wohnzimmer hin und her und erzählte ihr aufgeregt, dass er von Salvador lernen wolle, wie man Instrumente baute, und als er mit Maureen, die das Geschirr in die Küche tragen wollte, zusammenstieß und ihr die Teller zu Boden fielen wie einige Wochen zuvor im Restaurant, fasste er sich ein Herz, hielt mit beiden Händen ihren Kopf fest und küsste sie zum allerersten Mal. Er küsste sie richtig, nicht so, wie er damals Anna Linderoth geküsst hatte oder später, mit fünfzehn, Eva Forsberg, deren Lippen trocken und versiegelt waren und ohne jede Magie. Er küsste Maureen McDermott wie ein Mann, der weiß, dass er nie mehr eine andere küssen wird. Dann öffnete er die Augen und wartete ab, was passieren würde. Maureen sah Lennard an, dessen Hände noch immer ihre Ohren bedeckten, als sollten sie verhindern, dass sie sein ängstliches und erregtes Keuchen hörte, und nach einer Weile, die ihm wie eine Ewigkeit erschien, fragte sie ruhig, ob er als Instrumentenbauer eine Familie ernähren könne.
    Maureen hatte es mit dem Heiraten nie eilig gehabt. Die Ehe ihrer Eltern schien ihr eher zur Abschreckung denn zur Nachahmung geeignet. Dachte sie an ihre Kindheit, fiel ihr der Garten in Cork ein, der Seerosenteich und der riesige Himmel über ihr, wenn sie auf der Schaukel durchdie Luft schwang. Sie hatte das Lachen ihrer Mutter in den Ohren, ihre Rufe, wenn es Zeit zum Essen oder Schlafen war. Dazwischen hörte sie die Vaterstimme, die für ihren tiefen Ton viel zu leise war und die kurzen, beinahe schüchternen Sätze kaum trug. Zusammen erklangen die beiden Stimmen nur selten, einsame Solisten, die, wenn es sein musste, gemeinsam probten, verhalten und disharmonisch und froh, wenn alles Nötige gesagt schien. Ein Baum, der die Wolken berührte, ein von geheimnisvollen Quellen warm gehaltenes Haus und ein Mann und eine Frau, die Verheiratetsein spielten, das war, woran Maureen dachte, wenn sie sich die ersten fünfzehn Jahre ihres Lebens in Erinnerung rief.
    Dass sie der Grund sein könnte, weshalb ihre Eltern eine harmonische Ehe simulierten, ahnte Maureen schon als kleines Kind. Sie lachte und redete viel, tollte im Garten herum und polterte durch das Haus, aber gleichzeitig war sie eine aufmerksame Beobachterin, der kaum etwas entging. Ihr fröhliches, lärmendes Äußeres war nur Ablenkung, ein Tarnzelt, unter dem die Forscherin saß, neugierig, staunend und zunehmend besorgt. Was sie sah, waren seltsame Auswüchse der Liebe, Abarten der Treue,

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