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Nach Hause schwimmen

Titel: Nach Hause schwimmen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carl Hanser Verlag
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nicht. Er sah zu, wie Henry über die Kühlerhaube des Lieferwagens auf das Dach kletterte und dabei Foley abschüttelte, der seinen Fuß zu fassen bekommen hatte. Als die Sirene verstummte, hörte Wilbur, dass Henry seinen Namen rief. In der Stille entschieden sich ein paar Jungen zur Flucht, andere trotteten durchnässt ins Gebäude zurück. O’Carroll stürmte an ihnen vorbei und schien zu fliegen, als er sich auf Henry warf. Die beiden Männer stürzten zu Boden, und O’Carroll drosch mit einem der herumliegenden Holzknüppel auf Henry ein, der sich auf den Bauch gewälzt hatte. Foley, vor Kälte oder Angst zitternd, zerrte O’Carroll weg und legte sich auf Henry, bedeckte ihn vollständig mit seinem schweren, bebenden Körper. So plötzlich, wie er eingesetzt hatte, hörte der Regen auf. Sonnenlicht schwemmte über die Felder und jeden Fliehenden, über die Mauern und den Wagen und über Foley, der auf Henry lag, eine massige, dunkel glänzende Robbe.
    Moriarty drehte sich um, ging zum Schreibtisch und setzte sich in den Sessel. Eine Weile sah er vor sich hin, die Hände zum spitzen Dach gefaltet. Schließlich nahm er das Foto seiner Frau in die Hand und betrachtete es. Aus weiter Ferne waren Polizeisirenen zu hören. Moriarty seufzte und sah Wilbur nach, der den Raum verließ. Er wollte rufen, dem Jungen etwas mit auf den Weg geben, aber es fiel ihm nichts von Bedeutung ein.
     
    Eine Woche nach dem Vorfall waren achtundvierzig der sechsundfünfzig Ausreißer gefasst. Callum Gallagher war nicht unter ihnen. Nur einer aus der Gang hatte sich erwischen lassen und saß jetzt in einer Jugendstrafanstalt im Norden Dublins, weil er auf der Flucht ein Auto gestohlen und zu Schrott gefahren hatte. Wilbur wurde in Ruhe gelassen. Die meiste Zeit des Tages verbrachten die Jungen in der Bibliothek und in den Schlafsälen. Vor den Türen standen Wächter, zwei davon eben erst eingestellt. Männer in Anzügen gingen durch das reparierteTor ein und aus, schritten zielstrebig über die Flure, kletterten auf die Türme und machten Fotos.
    Im Büro, das Moriarty geräumt hatte, wurden Sitzungen abgehalten. Miss Rodnick kochte in fünf Tagen mehr Kaffee als in den fünf Jahren davor. Die Tür zum Kraftraum war verriegelt worden, eine Bestrafungsaktion, die allen Insassen galt, auch denen, die am Tag der großen Flucht im Gebäude geblieben waren. Doktor Carrigan kam jeden Tag vorbei und sah nach den zwei Jungen, die auf der Krankenstation lagen. Einer hatte sich beim Rennen über die Felder den Fuß verstaucht, der andere den Arm gebrochen, als er vor der anrückenden Polizei auf einen Baum geklettert und heruntergefallen war. Irgendjemand hatte Geraldine angewiesen, bis auf Weiteres keinen Nachtisch mehr zuzubereiten, auch das eine Strafmaßnahme.
    Um Gruppenbildungen und Verschwörungszirkeln vorzubeugen, wurden den Jungen neue Nummern zugeteilt. Wilbur musste in einen anderen Schlafsaal umziehen, und der Zufall wollte es, dass er mit Conor zusammengelegt wurde. Während der Nachmittagsstunden, in denen sie eingesperrt waren, lagen die meisten Jungen auf ihren Betten, lasen, hingen ihren Gedanken nach oder dösten vor sich hin. Obwohl Redeverbot herrschte, setzten sich Wilbur und Conor in eine Ecke und unterhielten sich leise. Weil die Jungen nicht arbeiteten, den Kraftraum nicht benutzen durften und ganze Tage verschliefen, waren sie nachts hellwach. Dann wurden siebenundzwanzig flüsternde Stimmen zum Lärm, und so teilten sie sich in Gruppen von je neun auf, unterhielten sich eine Stunde, schwiegen zwei und redeten dann weiter.
    Wilbur und Conor hatten viel nachzuholen und verbrachten jede Minute ihrer Sprechzeit zusammen. Zum ersten Mal erzählte Wilbur jemandem von seiner Zeit bei den Conways, von Ari’s Mega Video Store , von den Besuchen bei Colm, von Matthew Fitzgerald, vom Cellospielen und der Reise nach Schweden. Im Flüsterton vorgetragen, klang die Geschichte wie ein seltsames Märchen, dem Conor, zum staunenden Kind geworden, atemlos lauschte.
    Sieben Tage und Nächte dauerte es, bis beide ihre sieben Jahre losgeworden waren. Dann sprachen sie wieder über Schiffe und fremde Länder, über Meeresgetier und Flugzeuge und Bücher, wie sie es früher auf demkleinen Hügel vor Orlas Haus getan hatten. Trotz Moriartys Weggang und den Veränderungen, die ein anonymes Gremium anordnete, waren die beiden Freunde glücklich und beschlossen, noch eine Weile in Four Towers zu bleiben. Für Wilbur standen die Chancen

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