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Nach Hause schwimmen

Titel: Nach Hause schwimmen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carl Hanser Verlag
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dafür nicht schlecht, denn seine Brandstiftung in der Bibliothek war inzwischen aktenkundig, und auch Conor durfte sich Hoffnungen machen, da man an höherer Stelle nicht mehr viel von Robert Moriartys Empfehlungsschreiben hielt und erst einmal sämtliche vorzeitigen Entlassungen auf Eis legte.
     
    Die zuständigen Behörden waren Robert Moriartys Kündigungsgesuch zuvorgekommen und hatten ihn fristlos entlassen. Noel Moger, ein Mitglied der ehemaligen Gang, war auf der Flucht gefasst worden und hatte über die vergleichsweise paradiesischen Zustände in Four Towers geplaudert und damit Moriartys alten Gegnern reichlich Munition geliefert und sogar Leute im Justizministerium alarmiert. Bei seiner Vernehmung erzählte Moger von nächtlichen Fernsehvergnügen und Schutzgelderpressungen ebenso freimütig wie von eingeschmuggelten Pornoheften und den Preisen für Alkohol und Zigaretten. Er zitierte munter aus dem Gesetzbuch der Gang und schilderte, wie Übertretungen bestraft wurden und dass die Jungen, die über die Jahre hinweg mit Prellungen und blauen Flecken auf der Krankenstation gelandet waren, keineswegs immer nur einen Treppensturz hinter sich hatten. Seine Aussagen deckten sich mit denjenigen von anderen Jungen, die im Zuge der Untersuchungen befragt wurden und bereitwillig über alle möglichen geheimen Freiheiten, das vertuschte Feuer in der Bibliothek und einen bestechlichen Wachmann berichteten. Gegen Moriarty wurde ein Verfahren eingeleitet, O’Carroll wurde vom Dienst suspendiert.
    Elf Tage nachdem der angetrunkene Henry Conway im Lieferwagen des Restaurants, für das er manchmal in der Küche arbeitete, das Tor durchbrochen hatte, trat ein neuer Direktor offiziell sein Amt an. Er hieß John Townsend, war zweiundvierzig, hatte einen von frühmorgendlichen Waldläufen gestählten Körper und kürzeres Haar als die jugendlichen Delinquenten, deren Aufenthalt in Four Towers er grundlegend zu ändern gedachte. Er trug dunkelblaue Anzüge mit Weste, hörte in seinem Ford Mondeo klassische Musik und trank täglich dreiLiter stilles Wasser. Miss Rodnick rief er Gloria und leitete an seinem ersten Arbeitstag die vorzeitige Pensionierung der unter seinem Kommando gleichzeitig überforderten und aufblühenden Frau in die Wege. Mit den Wachmännern, den altgedienten und den von ihm eingestellten, pflegte er einen jovialen Umgang und erwartete von ihnen unbezahlte Überstunden als Zugeständnis unter Freunden.
    Er ließ eine Stechuhr installieren und Videokameras, Bewegungsmelder und Sicherheitsschlösser. Aus dem Taubenschlag wurde wieder ein Wachturm, aus der Bibliothek ein Arbeitsraum für die kalte Jahreszeit. Die vom Brand verschonten Bücher kamen in einen Raum neben Miss Rodnicks Büro, wo Briefpapier und alte Ordner lagerten. Die tägliche Arbeitszeit der Insassen wurde um eine Stunde verlängert, Besuchstag war nur noch jeden zweiten Monat. Die Öffnungszeiten des Kraftraums beschränkten sich auf jeweils zwei Stunden am Samstag und Sonntag, wobei nur die Jungen Zugang hatten, die sich in der laufenden Woche keine Fehltritte erlaubt und ihre Arbeitsvorgaben erfüllt hatten. Um nicht als Unmensch zu gelten, ließ der neue Direktor im Hof zwei Basketballkörbe anbringen und wenigstens am Sonntag wieder einen Nachtisch servieren, den nicht mehr die wegen Bestechlichkeit entlassene Geraldine zubereitete, sondern ein Koch.
    In der zweiten Woche nach seinem Amtsantritt beorderte Townsend Wilbur zu sich. Er hatte die Absicht, sämtliche Insassen der Reihe nach zu empfangen, um sich einen Eindruck von ihrem moralischen Zustand zu verschaffen und ihnen mitzuteilen, dass er nichts von dem, was unter Moriartys Leitung möglich war, auch nur ansatzweise dulden würde. Eigentlich hatte er sich die gefassten Flüchtlinge zuerst vorknöpfen wollen, aber dann erhielt er einen Anruf und setzte Wilbur Sandberg zuoberst auf seine Liste. Er saß hinter einem Schreibtisch aus getöntem Glas und Chromstahl und hob nicht einmal den Kopf, als Cormack Wilbur in den Raum schob.
    »Danke, Michael«, sagte Townsend, während er mit einem Metallstift auf das Bedienungsfeld des Organizers tippte, der vor ihm auf der fast leeren Tischplatte lag.
    »Keine Ursache, Mr. Townsend, Sir.« Cormack verließ das Büro und schloss die Tür hinter sich.
     
    Wilbur stand da und wartete, betrachtete die leeren, weiß gestrichenen Wände und die neuen Regale, auf denen Reihen dicker, gleichfarbiger Bücher standen. Er wusste, dass er der erste

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