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Nach Hause schwimmen

Titel: Nach Hause schwimmen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carl Hanser Verlag
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Buchstabensteinen zu greifen, ihre Fingerspitzen gegeneinander, und sie zuckten verlegen zurück. Solche Momente entstanden auch, wenn Alice nachts in Slip und T-Shirt das Badezimmer betrat, wo Wilbur sich gerade die Zähne putzte, oder wenn Alice ihre Unterwäsche von der Leine über der Badewanne nehmen musste, weil Wilbur verschwitzt von einem Spaziergang zurückkam und duschen wollte.
    Alice hatte Wilbur nie die ganze Wahrheit darüber erzählt, warum sie ihn zu sich geholt hatte. Über Chestnut Hill, die in Erwägung gezogene Adoption und die Trennung von Lawrence hatte sie gesprochen, ihre monatelange Depression verschwieg Alice aber ebenso wie ihre Alkoholsucht, die Aufenthalte in den Kliniken und die Treffen in der Foster Avenue.
    Sie habe sehen wollen, was aus dem kleinen Jungen, den sie vor vielen Jahren fast schon als ihren Sohn betrachtet hatte, geworden sei, hatte sie Wilbur damals in Sligo gesagt, und Wilbur hatte sich damit zufriedengegeben. Die Alternative zu Alice und Amerika hätte Kinderheim bedeutet, vielleicht Miss Ferguson, bis er achtzehn gewesen wäre. EineWahl hatte man ihm sowieso nicht gelassen, wollte ihn loswerden, bevor er wieder irgendwo Feuer legte.
    Manchmal hatte Wilbur sich gefragt, was wohl die Leute in der Nachbarschaft von Alice und ihrem neuen Untermieter dachten, sich dann aber im Spiegel gesehen und die Antwort gewusst. Er war einen Meter neunundfünfzig groß und sein kindliches Gesicht ohne Anzeichen eines baldigen Bartwuchses, und wenn er neben Alice stand, hielt man ihn vermutlich für ihren Sohn oder Neffen. Neben ihr wirkte er wie ein Zwerg und nicht wie ein Achtzehnjähriger, in dessen Körper Hormontumulte tobten und der eine Erektion bekam, wenn er unter der Bluse einer Passantin Brustwarzen zu sehen glaubte. Nie versucht zu sein, Alice mit den Augen zu betrachten, mit denen er andere Frauen betrachtete, empfand Wilbur als Entlastung. Zu seinem Glück war Alice riesig und dünn, hatte kaum einen Busen und trug das Haar so kurz, dass Wilbur sich, wenn sie auf dem Sofa neben ihm saß oder im Nachthemd zur Toilette ging, einreden konnte, sie sei ein Mann.
     
    Im Juli kamen Harold und Louise mit dem kleinen George zu Besuch aus London. Harold und Louise begrüßten Wilbur mit überschwenglicher Freude und schenkten ihm, von seiner Wasserphobie nichts ahnend, ein Surfbrett, das sie auf dem Weg vom Flughafen gekauft hatten. Harold mochte Wilbur auf Anhieb, und schon am ersten Abend, den sie in einem indischen Restaurant um die Ecke verbrachten, schlug er vor, Wilbur zum Patenonkel von George zu machen. Louise fand die Idee großartig und meinte, darauf müssten alle mit Champagner anstoßen. Den strengen Blick, den Harold seiner Frau zuwarf, und das darauffolgende betretene Schweigen erklärte sich Wilbur damit, dass Harold ihn trotz Volljährigkeit für zu jung hielt, um Alkohol zu trinken. Er dachte daran, auf scherzhafte Art zu erzählen, wie er vor ein paar Tagen während eines abendlichen Streifzugs durch das Quartier eine halbe Flasche Bier getrunken und sich danach elend gefühlt hatte, ließ es dann aber bleiben.
    Harold beendete die unangenehme Stille mit dem Vorschlag, am nächsten Tag nach Long Island zu fahren. Er wolle beim Haus haltmachen, die Mieter, eine Familie aus Detroit, begrüßen und sich davonüberzeugen, dass sie mit allem zurechtkam. Er meinte, das sei eine gute Gelegenheit, um an den Strand zu gehen, zu schwimmen und Wilbur bei seinen ersten Versuchen auf dem Surfbrett zuzuschauen. Alice und Louise waren von der Idee begeistert, und auch Wilbur tat, als könne er sich nichts Aufregenderes vorstellen.
    Tags darauf, Louise und Alice packten Getränke in eine Kühlbox, schnitt Wilbur sich so heftig in die Hand, dass Alice und Harold mit ihm zum Arzt fahren mussten, der die Wunde mit acht Stichen nähte. Obwohl Wilbur es angesichts der Schwere der Verletzung und der Menge an Blut, die er verloren hatte, für unmöglich hielt, dass ihm jemand Absicht unterstellen könnte, erkundigte er sich, kaum vom Operationstisch aufgestanden, nach einem wasserfesten Überzug für die Hand, die ihm das Baden im Meer erlauben würde. Als der Arzt eindringlich von jeglichem Kontakt mit Wasser abriet, zeigte Wilbur sich enttäuschter als Harold, der ihn damit tröstete, man würde das Surfbrett bei seinem nächsten Besuch ausprobieren.
    Am Nachmittag gingen sie alle in den Central Park und veranstalteten ein Picknick unter einem Baum, der dreihundert Meter Luftlinie

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