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Nach Hause schwimmen

Titel: Nach Hause schwimmen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carl Hanser Verlag
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ersten Abend von sich preisgegeben hatte, nämlich dass er Lenny heiße und seit Jahren trinke. Die Wahrscheinlichkeit, dass Lenny Wilburs Vater war, schien Alice und Wilbur groß genug, um eine Suchaktion zu starten, die über die Grenzen der von Wilbur zu Fuß und mit dem Bus durchstreiften Quartiere hinausging.
    Als erstes rief Alice bei der Polizei an, danach bei sämtlichen Krankenhäusern in Brooklyn, Queens und der Bronx, und schließlich bei mehreren Ämtern. Lennard Sandberg war weder irgendwann verhaftet noch in eine Klinik eingeliefert worden, zumindest nicht im Verwaltungsbezirk von New York City, und ein Totenschein auf diesen Namen war ebenfalls nie ausgestellt worden. Die Sozialversicherungsbehörde hatte einen Lennard Arne Sandberg registriert, aber an der angegebenen Adresse in Gravesend, einem Stadtteil im Süden Brooklyns, erkanntenur einer der von Alice und Wilbur angetroffenen Mieter seinen ehemaligen Nachbarn. Der alte, mit mehreren Katzen in einer finsteren Zweizimmerwohnung hausende Mann erinnerte sich an den dünnen Schweden, der sehr still und eigenartig gewesen und vor anderthalb Jahren einfach verschwunden sei. Wohin Lennard gegangen war, wusste er nicht.
    Alice und Wilbur hängten fotokopierte Plakate auf und verteilten Handzettel, von denen Lennards schmales Gesicht lächelte, als sei ihm die Aufmerksamkeit, die ihm zuteil wurde, peinlich. Wilbur fuhr jeden Tag mit Bussen und der U-Bahn, er ließ Handzettel in Imbissbuden und Parks liegen und klemmte sie unter Scheibenwischer, er heftete Plakate an Wände und Bäume, zeigte wildfremden Menschen das Bild seines Vaters und hoffte in jeder Straße die rote Tür mit der Zahl 73 zu entdecken. Mit Harolds Hilfe gaben sie für achthundert Dollar ein Inserat in der New York Times auf. Es erschien an einem Freitag und verlor sich zwischen der Vermisstenanzeige für einen Perserkater und der Werbung einer Kreditfirma. Als es erschien, hatte Wilbur ein seltsames Gefühl und fragte sich zum ersten Mal seit Wochen, was er mit seinem Vater anfangen würde, wenn er ihn fände.
    Den Gedanken, ihn zu erschießen, hatte er verworfen, alleine schon deshalb, weil ihm die Beschaffung einer Waffe unmöglich erschien. Wenn er den ganzen Tag unterwegs gewesen war, begleitet vom erschöpften Lächeln seines Vaters, wurde sein Hass nur noch vom Ehrgeiz übertroffen, den Gesuchten endlich zu finden, ihn zur Strecke zu bringen und Rechenschaft zu verlangen. Diese Gefühle verbarg er gegenüber Alice, die ihre Zeit und Energie in dem Glauben einsetzte, an der wunderbaren Zusammenführung von Vater und Sohn beteiligt zu sein, und eine verklärte Vorstellung davon hatte, wie sich die beiden in die Arme fallen und vor Glück weinen würden.
    Eine paar Leute meldeten sich telefonisch bei ihnen und behaupteten, Lennard Sandberg gesehen zu haben. Alice und Wilbur gingen jedem Hinweis nach, fuhren nach Queens und in die Bronx und einmal bis nach Newark, um die Anrufer zu treffen. Ein als Hobbydetektiv tätiger Vietnamveteran brachte sie zu einem Mann, der entfernt wie Lennard aussah, aber zwanzig Jahre älter war und seine verbleibendenTage in einem städtischen Altersheim und geistiger Umnachtung hinter sich brachte. Mehrmals wurden sie zu einer Gruppe von Obdachlosen geführt, unter denen sich Lennard angeblich befand. Eine alte Frau behauptete, ihr eigener Sohn, der bei ihr im Keller wohnte und Tiere ausstopfte, sei der Gesuchte. Eine Krankenschwester glaubte sich an ein Unfallopfer zu erinnern, ein Hausmeister an einen ehemaligen Mieter, ein Drogeriebesitzer an einen Kunden. Viele fragten am Telefon nach einer Belohnung und legten auf, wenn Alice ihnen im Erfolgsfall hundert Dollar anbot. Angeber riefen an und Spinner, verwirrte Seelen und Säufer, Leute, die reden wollten und selber verzweifelt jemanden suchten, Menschen, die es gut meinten und Psychopathen, hilfsbereite Bürger, pensionierte Polizisten, gelangweilte Hausfrauen und Tage diebe, die auf eine Tasse Kaffee und ein paar Dollar aus waren.
    Aber keiner von ihnen wusste, wo Lennard Sandberg war. Die Anrufe und hinterlassenen Nachrichten wurden weniger, ganze Wochen vergingen, ohne dass sich neue vermeintliche Zeugen meldeten. Die Treffen verkamen zu grotesken Schauspielen, zu peinlichen Wiederaufführungen vergangener Misserfolge. Wilbur kam es vor, als stolpere er über die ewig gleichen Bühnen, als höre er dieselben schüchtern gestammelten und wichtigtuerisch deklamierten Texte immer wieder, als sei

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