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Nach Hause schwimmen

Titel: Nach Hause schwimmen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carl Hanser Verlag
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sogar seine Reaktion auf die unausbleibliche Enttäuschung inzwischen einstudiert und flach, Teil einer miesen, abgeschmackten Inszenierung.
    Alice wurde müde und zunehmend mutlos, aber aufzugeben kam für sie nicht infrage. Sie hatte diese Suchaktion angeregt und vor, sie erst an dem Tag zu beenden, an dem Lennard Sandberg gefunden war. Wenn abends oder nachts das Telefon klingelte, musste sie sich dazu zwingen, den Hörer abzuheben und mit diesen fremden Menschen zu sprechen und für den nächsten Abend ein Treffen an irgendeiner Straßenecke, in einer Kneipe oder Wohnung zu vereinbaren, als handle es sich um eine Verabredung zweier Krimineller oder verklemmter Zeitungsinserenten. Wurde sie mitten in der Nacht aus dem Schlaf geschreckt, blieb sie erst liegen und dachte daran, das Telefon diesmal klingeln zu lassen, sprang dann aber doch aus dem Bett und hörte sich eine neue Geschichte voller Versprechungen, Ungereimtheiten und schicksalhafter Fügungen an, notierte sich einen Namen und eine Adresse und versprach zu kommen.Sie schlief immer schlechter und widerstand der Versuchung, etwas zu trinken. Ihre Träume wurden kurz und farblos, und Lennard Sandberg kam in ihnen nicht mehr vor.
     
    Bald fuhr Wilbur nur noch jeden zweiten Tag in irgendeinen Stadtteil, um Zettel zu verteilen, Plakate aufzuhängen und schläfrigen Männern das Foto unter die Nase zu halten. Er war die Hitze und die mürrischen Passanten leid, er mochte nicht mehr Ladenbesitzer um Erlaubnis bitten, ein Plakat anzubringen, er ertrug es nicht mehr, die Frage zu beantworten, warum er den Mann auf dem Foto suchte, weil er es selber nicht mehr wusste. Im Oktober, dem alles Herbstliche fehlte, half er Alice im Reformkostladen, saß auf dem Gehsteig unter einem Sonnenschirm und bediente eine Maschine, in deren Bauch ein träges Rührwerk organisches Zitroneneis bewegte.
    Trevor und Clive befanden sich auf einer Kreuzfahrt für pflegebedürftige Senioren in der Karibik, ihrer letzten Reise, wie sie in einem Zustand kindlicher Vorfreude und leiser Panik orakelt hatten. Nachdem Clive ein neues Hüftgelenk eingesetzt worden war, erholte er sich nur sehr langsam, und kaum war er wieder halbwegs auf den Beinen, entdeckten die Ärzte bei Trevor Altersdiabetes. Obwohl weder Clives zögerliche Genesung noch Trevors überraschender Befund in irgendeiner Weise besorgniserregend waren, meinten die beiden den Hauch des Todes zu spüren. Bevor sie nach Miami flogen, wo das Lazarettschiff, wie sie es scherzhaft nannten, auf sie wartete, übertrugen sie Alice feierlich die Verantwortung für den Laden und händigten ihr neben den Schlüsseln einen Umschlag aus, den sie öffnen sollte, falls beide nicht lebend zurückkehren sollten.
    Doch statt Todesnachrichten trafen Postkarten aus Antigua, Barbados und Saint Lucia ein, die Alice an die Wand neben der Kasse pinnte. Sie führte im Laden einige Änderungen ein, nahm Naturheilmittel und Fleisch aus artgerechter Haltung ins Sortiment auf und gewann dadurch neue Kundschaft. Sie brachte Ordnung in die Regale und befreite den Lagerraum von Kisten mit leeren Einmachgläsern, vergilbten Prospekten und längst abgelaufenen Produkten. Trevors und Clives Tradition, den Laden am Mittwoch geschlossen zu halten, hob sie auf und verlängertedie abendliche Öffnungszeit um eine Stunde. Trotz dieser Belastungen opferte sie ihre Sonntage, um Wilbur bei dem, was sie für seine Lebensaufgabe hielt, zu helfen. Innerlich hatte sie schon lange resigniert, erschöpft und von der Illusion befreit, jemals Zeugin des Wunders der Zusammenführung zu werden.
     
    Im November betraten zwei braungebrannte ältere Männer den Laden, die unter ihren Mänteln bunte Hawaiihemden trugen und von Schnorchelkursen, durchtanzten Nächten und, kaum waren sie mit Wilbur alleine, von meerjungfraugleichen Pflegerinnen und guterhaltenen, ohne Begleitung reisenden Seniorinnen schwärmten. Die Lungen voller Seeluft und betörendem Parfüm, stellten sich Trevor und Clive hinter den Ladentisch, pfiffen Salsamelodien und schickten Alice zur Erholung für eine Woche nach Hause. Sie wollten wissen, wie die Suche nach Wilburs Vater verlaufen war, und schlugen vor, eine Belohnung auszusetzen, eine Art Finderlohn. Aber Wilbur lehnte dankend ab, obwohl ihm die Vorstellung gefiel, seinen Vater auf den Plakaten wie einen Verbrecher oder entlaufenen Hund darzustellen.
    Im letzten Monat des Jahres flog Alice nach London, um zwei Wochen bei Harold, Louise und George zu

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