Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Nach Hause schwimmen

Titel: Nach Hause schwimmen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carl Hanser Verlag
Vom Netzwerk:
verbringen. Nach tagelangem Ringen und der Heraufbeschwörung faszinierender Fahrten in roten Bussen und Besuchen atemberaubender Ausstellungen hatte sie es aufgegeben, Wilbur zum Mitkommen zu bewegen. Als Grund, New York nicht zu verlassen, gab Wilbur an, die Suche nach seinem Vater fortsetzen zu wollen. In Wahrheit hatte er schon vor Wochen die letzten Handzettel auf einer Bank im Juniper Valley Park in Queens liegenlassen und nicht vor, noch mehr Zeit mit der Jagd nach einem Phantom zu vergeuden.
    Die beiden Wochen ohne Alice verbrachte er in der Wohnung, wo er schlief und las und fernsah und es schaffte, sich mit Reformkost ungesund zu ernähren, und in der Bibliothek, wo er an seiner Bruce-Willis-Biografie arbeitete. Zweimal pro Woche half er einen halben Tag im Laden, packte frische Waren aus, klebte Preisschilder darauf und räumte sie in die Regale. An Heiligabend luden ihn Trevor und Clive zum Essen bei sich zu Hause ein und schenkten ihm einen Schal, eine CD von Billie Holiday und eine Erstausgabe von Wer die Nachtigall stört ,Trevors Lieblingsbuch. Drei Tage später sah Wilbur sich zu Hause einen Film mit Winona Ryder an und dachte über die beschämende Tatsache nach, dass er noch Jungfrau war. Sein spätnachts gefällter Entschluss, sich zu betrinken und zu einer Prostituierten zu gehen, endete in Demütigung und Reue.
    Nach weiteren drei Tagen kam Alice aus London zurück. An Silvester aßen sie in einem chinesischen Restaurant in der Nähe der Wohnung und fuhren danach mit der U-Bahn nach Manhattan, wo sie um Mitternacht zusahen, wie am Times Square die Kristallkugel herabsank. Sie umarmten einander, Alice weinte völlig überdreht, dann tränkten die explodierenden Farben des Feuerwerks den Himmel, erleuchteten für Sekunden die Zukunft und sanken erlöschend zwischen die Häuser.

12
    Der Tod ist kein Sensenmann, der nachts taktvoll an dein Bett tritt und dir sagt, deine Zeit sei abgelaufen, und der deine Hand nimmt und dich in die ewige Dunkelheit führt, wie dich damals deine Mutter in die erste Schulstunde geführt hat. Der Tod ist ein mies gelaunter Beamter, der Überstunden schiebt und seinen Frust an dir auslässt, der dich durch die Flure eines gigantischen Gebäudes schleppt, wo das Sterben verwaltet wird und die Türen mit ANGST , SCHMERZ UND VERLORENHEIT angeschrieben sind. Der Tod ist ein Geschäftsmann, ein Experte, ein virtuoser Techniker ohne Phantasie. Der Tod trägt keinen schwarzen Umhang, sondern einen weißen Kittel, und statt des Knochenschädels lächelt dich ein fleischiges Gesicht an, das jeden Tag ein anderes ist. Der Tod hat eine gebräunte Fresse, und heute heißt er Doktor Alexander Cartridge.
    »Sie können da nicht rein«, sagt Cartridge, als ich im Flur an ihm vorübergehe, zum Zimmer 239, in dem Spencer liegt, den ich seit einer Stunde suche, weil er wieder verlegt wurde, das dritte Mal innerhalb von vierzehn Tagen. Ich gehe weiter.
    »Mr. Sandberg?«
    Man kennt mich hier. Die Ärzte sagen mir jeden Tag mindestens zehnmal, was ich hier drin alles nicht kann, und ich scheiße darauf. Als man sich letzte Woche weigerte, Spencer zu entlassen, damit er in seinem Hotelzimmer sterben kann, wurde ich laut und habe einen Arzt weggestoßen, der mich am Arm angefasst hat, und seither gelte ich als renitent. Man drohte mir mit Hausverbot, aber zum Glück habe ich einen Briefvon Spencers Schwester Zelda, in dem steht, dass ich mich um alles kümmern soll, was ihren Bruder betrifft. Spencer ist so mit Medikamenten vollgepumpt, dass er kaum je bei Bewusstsein ist. Wenn er doch einmal halbwegs und für einen flüchtigen Moment aus seinem Dämmerzustand erwacht, starrt er mich an, und ich meine, Panik in seinen Augen zu erkennen. Dann drücke ich seine kühle, welke Hand, gerade fest genug, um die Knöchelchen darin nicht zu brechen und ihn trotzdem spüren zu lassen, dass ich da bin und nicht gehe, solange er mich braucht.
    Zelda, acht Jahre jünger als Spencer, lebt in Henderson, Nevada. Der Streit um eine Erbschaft hat die beiden vor vielen Jahren entzweit, das weiß ich von Spencer. Und dass sie in England aufgewachsen sind. Am Telefon klang Zelda betrübt, als ich ihr erzählte, Spencer würde bald an Prostatakrebs sterben, aber so etwas wie Geschwisterliebe scheint sie längst abgelegt zu haben. Sie bat mich, ihren Bruder vom Städtischen Krankenhaus in eine Privatklinik verlegen zu lassen, die Kosten übernehme sie. Das tut sie auch wirklich und sorgt so aus dem Hintergrund

Weitere Kostenlose Bücher