Nach Hause schwimmen
dafür, dass Spencer auf seinem letzten Weg Erster Klasse reist. In der Privatklinik hat Spencer ein Einzelzimmer, was auf jeden Fall besser ist als das Achtbettzimmer im Armeleutehospital, wo er noch vor zwei Wochen lag. Aber das alles hier jagt ihm einen ungeheuren Schrecken ein, das ganze Weiß und die Stille und die Schwestern, die ihm vorkommen müssen wie sterile Engel in einem Himmel, in den er nie kommen wollte. Als er noch nicht in einen Ozean aus Schmerz- und Schlafmitteln versenkt worden war, hat er mich gefragt, wo er sei, und ich habe ihm geantwortet, man kümmere sich hier um ihn, bis er wieder auf den Beinen ist. Er wolle zurück in sein Zimmer im Hotel, hat er gesagt, und ich habe ihm versprochen, dafür zu sorgen.
Spencers Zimmer im Hotel ist so klein wie alle anderen, aber wer es betritt, erlebt ein Wunder. Spencer hat den Fußboden von seinem miefigen Teppich befreit und ihn in einen prächtigen Dielenboden zurückverwandelt, Stück für Stück, mit Schleifpapier, auf Händen und Knien. Die Wände, auf denen zahllose arme Schweine ihr Gekritzel hinterlassen haben, hat er mit hübschen, hellen Tapeten beklebt. An diesen Wänden hängen Hunderte von gerahmten Bleistiftzeichnungen, vom Boden bis zur Decke, über der Tür, an jedem verfügbaren Fleck. Die Rahmen sindalle aus demselben dunklen Holz gefertigt, aber von unterschiedlicher Größe. Die Zeichnungen, zarte Geflechte aus Graphit, zeigen Menschen. Spencer hat sie über Jahrzehnte hinweg festgehalten, sie stehen oder sitzen, abwesend, ohne irgendeine Beschäftigung, mit leeren Händen, umgeben nur von Andeutungen, feinen, ins Nichts fließenden Strichen. Nachdem ich eine Weile nur staunend dagestanden war, habe ich die Gesichter der Gezeichneten betrachtet, Hunderte von Fremden, bis ich an einer Wand Dobbs erkannte, dann Alfred, Randolph, Enrique, Elwood, Leonidas, Mazursky, Winston. Mich. Und Aimee. Spencer hat uns aus dem Gedächtnis gezeichnet. Er hat scheinbar teilnahmslos in der Lobby gesessen und uns unter müden Lidern hervor betrachtet, ist nach oben in seine eigene Welt, seine eigene Zeit gegangen und hat uns gezeichnet. Ich hätte ihm gerne dabei zugesehen. Ich hätte gerne gesehen, wie er Aimee auf dem Papier festhält, wie ihr Körper das leere Blatt betritt, wie aus seiner Erinnerung ihr Gesicht wird und wie er zaubert und ihren Blick einfängt, der mich trifft, wie mich der Blick der echten Aimee immer getroffen hat.
»Sie können jetzt nicht rein«, sagt Cartridge. Er hat mich überholt und steht vor der Tür mit der Nummer 239. Cartridge ist nur einen halben Kopf größer als ich, aber er ist breit und durchtrainiert, bestimmt stählt er seinen Körper in Fitnessstudios, Squashhallen und auf Golfplätzen.
»Warum nicht?« frage ich.
Cartridge senkt den Blick, vielleicht für zwei Sekunden. Das reicht mir, um zu wissen, dass Spencer tot ist. Gerade als Cartridge zu einer Antwort ansetzen will, öffne ich die Tür. Ich sehe, wie zwei Pfleger Spencers Leiche in einen Plastiksarg legen, der im Deckenlicht schimmert. Ein Arzt, dessen Namen ich vergessen habe, steht neben dem Bett und blickt von einem Heft auf, in das er schreibt, sieht mich an. Cartridge zieht meine Hand von der Türklinke und schiebt mich weg, aber ich habe sowieso nicht vor, das Zimmer zu betreten. Ich drehe mich um und gehe den Flur hinunter und Stufen und durch einen anderen Flur und eine Glastür, die sich vor mir öffnet, und durch noch eine Schiebetür, wie ein Astronaut, der eine Raumstation verlässt und ins Nichts tritt, in die Leere des Universums, das sich vor ihm ausdehnt und doch zu klein ist, zu eng zum Atmen.
Es ist kalt, und was an Licht da wäre, liegt auf den Wolken, weit weg und unsichtbar. Ich gehe den Weg zum Hotel zu Fuß, vielleicht hundert Blocks. Ich wünschte, es wären tausend.
Für den Rest des Tages sitze ich in Spencers Zimmer. Ich sollte Zelda anrufen, aber ich warte noch damit. Ein Song von Count Basie weht durch das Gebäude, eine Brise aus Tönen, die sich in den Gängen verliert. Dreihundertzweiundfünfzig Bilder zähle ich, unter dem Bett waren noch mehr, alle gerahmt. Schwarzweißfotos auf der Kommode zeigen ein Landhaus, einen Mann und eine Frau auf einem Sofa, einen Jungen in einem Ruderboot und auf einem Pferd, ein Mädchen, das vermutlich Zelda ist. Im Schrank hängen zwei Anzüge, auf Regalen liegt ein Stapel Hemden und ordentlich gefaltete Unterwäsche. Ein Radiogerät aus blauem Kunststoff steht auf dem
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