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Nach Hause schwimmen

Titel: Nach Hause schwimmen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carl Hanser Verlag
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Bus und ließ sich irgendwohin fahren, wechselte planlos die Linien und landete an Orten, an denen er nie zuvor gewesen war, nicht einmal, als er nach seinem Vater gesucht hatte. Seit Monaten hatte niemand mehr angerufen und behauptet, Lennard Sandbergs Aufenthaltsort zu kennen. Trotzdem passierte es immer wieder, dass Wilbur an einer Haltestelle ausstieg und einem Mann hinterherrannte, nur um in sein Gesicht zu sehen. Er hasste sich jedes Mal dafür, aber unterdrücken konnte er den Zwang nicht. Einmal hatte er einen Mann über drei Blocks verfolgt und sogar angesprochen, weil er in der dürren, verkommenen Gestalt seinen Vater zu erkennen glaubte. Darauf fühlte er sich so elend, dass er in die nächste Bar ging und sich, nachdem er seinen ansonsten nutzlosen Führerschein einer Reihe von ungläubigen Angestellten und dem herbeigerufenen Geschäftsführer gezeigt hatte, mit zwei Caribbean Cool Wave , die es mit Sonnenschirm und Trinkhalm gab, besinnungslos trank. Vor jedem Schluck an Alice zu denken, hielt ihn ebenso wenig von seinem ersten Alkoholdelirium ab wie die begründete Vermutung, dass sein Vater sich totgesoffen hatte.
     
    Der Sommer ging vorbei wie ein langer Fieberschub, wie ein Traum, aus dem Wilbur ohne Erinnerung erwachte. Die Arbeit im Laden, dieBeschränkung auf diesen einen Flecken Welt und seine gelegentlichen, diszipliniert dosierten Abstürze in wechselnden Bars hatten ihn stetig der Wirklichkeit entzogen. Das wahre Leben spielte sich vor ihm auf der Straße ab, es lärmte und roch und ließ das Schaufensterglas erzittern und Wilbur doch ungerührt. Menschen betraten den Laden und wurden von ihm bedient, effizient und fachkundig und mit freundlicher Distanziertheit. Wilburs Stadt schrumpfte auf die immergleichen Orte, was er tat, war eine Liste aus Wiederholungen, seine Gedanken kreisten um denselben unbewohnten Planeten, tagaus, tagein und jede Nacht. Nichts war ihm zu viel, kein Kunde zu anspruchsvoll, keine Frage zu banal, aber es war ihm auch nichts zu wenig, keine Woche zu leer, kein Monat zu unbedeutend.
    An seinem Buch arbeitete er mit Fleiß und Disziplin, aber ohne Leidenschaft. In der Dunkelheit der Kinos kam er manchmal zu sich und stellte sich vor, wie das Leben draußen sei und wie man sich darin bewegte. Er begann, die Filme nicht mehr zu verstehen, oder verstand sie falsch, verließ mitten in der Vorführung den Saal und trat benommen und ratlos auf die Straße hinaus. In der Wohnung legte er sich zum Schlafen hin, während Alice am Küchentisch über der Buchhaltung saß und vergeblich darauf wartete, dass er mit ihr sprach. Sonntags begleitete er sie in den Park, weil er gegen ihre fordernde Lebenslust nicht ankam und weil es ein winziges Eingeständnis an ihr Bedürfnis nach Mustern war, nach tröstlichen Zeichen von Beständigkeit und Normalität.
    Alice wusste nicht, wie sie mit Wilburs Verstocktheit umgehen sollte, tat sein Schweigen mal als pubertäre Verunsicherung ab, mal als Folge der ergebnislosen Vatersuche. Sie las heimlich Bücher von Jugendpsychologen und befolgte deren Rat, Wilbur zu nichts zu drängen, auch nicht zu einem Gespräch. Und sie suchte eine größere Wohnung.
     
    Zwei Monate später bezogen sie mit ihren Habseligkeiten eine Dreizimmerwohnung in einem achtgeschossigen Apartmenthaus in Midwood im Süden Brooklyns. Eine gute Kundin des Reformkostladens war eine der Besitzerinnen des Hauses und revanchierte sich dafür, dass Alice sie mit einer ausgeklügelten Diät und homöopathischen Mitteln fast vollständig von einer Gichterkrankung geheilt hatte. Wilbur durfte sichsein Zimmer aussuchen und nahm das kleinere zur Straße hin, weil er außer einer Holzkiste keine Möbel besaß und im dritten Stock der Blick aus keinem der Fenster lohnend war. In einem Trödelladen kauften sie ein Bett, einen Schreibtisch und einen Stuhl für Wilbur und einen Polstersessel, damit sie beim Fernsehen nicht länger zusammen auf dem Sofa sitzen mussten. Alice strich die Küchenwände gelb und stellte Pflanzen auf die Fenstersimse. Sie hängte Bilder auf und gerahmte Fotos, sie fand eine alte Kommode, die sie im Keller ablaugte und schliff und ölte und in ein Schmuckstück verwandelte, und sie fuhr bis nach Connecticut, um einen Teppich aus gefärbtem Bast zu kaufen.
    Wilbur ließ die Wände in seinem Zimmer, wie sie waren, gebrochen weiß und mit den Sternzeichen alter Nagellöcher überzogen. Er stellte seine Bücher und Colms Nashorn in die Regale und schob den Koffer

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