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Nach Hause schwimmen

Titel: Nach Hause schwimmen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carl Hanser Verlag
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Schirm über die Augen gelegt hatte, und kaute abwesend. Hinter der Mauer rollte das Meer gegen das Land. Möwen flogen heute keine, vielleicht war ihnen der Himmel zu hell. Als die Wolke von der Sonne wegtrieb und Licht in das Viereck aus Mauern stürzte, klopfte es zaghaft an der Holztür. Orla wischte sich die Hände am Kleid ab, als wolle sie gleich jemanden begrüßen.
    »Colm?« rief sie und erhob sich. Der einsame Nachbar kam gelegentlich herüber und trank eine Tasse Tee mit, setzte sich zu Orla und Wilbur und sah ihnen zu, wie sie ihre Städte bauten. Er war linkisch und schüchtern, und wenn er etwas sagte, stotterte er manchmal und schüttelte den Kopf, als wolle er seine eigenen Worte infrage stellen.
    Auf der anderen Seite der Mauer blieb es still. Colm kam nie an die Rückseite des Hauses, er klingelte immer vorne, wie er es getan hatte, bevor es die rote Tür überhaupt gab. Dann klopfte es noch einmal, zugleich zaghaft und hartnäckig. Orla seufzte und ging zur Mauer, nahm den Schlüssel vom Haken und sperrte die Tür auf.
    Draußen stand Conor Lynch, hielt den Kopf gesenkt und verdrehte mit beiden Händen die Kappe, als wolle er sie auswringen.
    »Conor?« Orla ging ein wenig in die Knie, um dem Jungen ins Gesicht zu sehen.
    »Ist Will da? Ich meine, Wilbur.« Conor hob endlich den Kopf, um ihn gleich wieder zu senken. Er trug kurze Hosen aus grobem Stoff, seine Beine waren zerkratzt. Wenn er mit diesen Schuhen das Schulhaus betreten hätte, wären ihm zwei Stunden Nachsitzen sicher gewesen.
    Orla drehte sich um. Wilbur saß da, sah in ihre Richtung und vergaß zu kauen. Eine Wespe umkreiste ihn, ein winziger summender Satellit. Er verscheuchte sie nicht.
    »Conor ist hier«, sagte Orla. »Conor Lynch.« In der Gegend gab es noch einen Conor, den alten, alleinstehenden McGonigle, der Hirtenhunde züchtete und regelmäßig Ärger mit der Polizei hatte, weil er während der Schonzeit auf Rebhühner schoss.
    Wilbur blieb sitzen. Er sah Conor nicht, der, von Orla verdeckt, imTürrahmen stand. Jetzt zog doch eine Möwe durch das Blau des Himmels. Sie schlug nicht mit den Flügeln, ihre Konturen wurden vom Licht verwischt, sie gab keinen Laut von sich. Wilbur sah ihr nach, der Kuchenbissen rutschte ihm in den Hals. Er machte eine Faust, es schmerzte nicht, dann öffnete er sie und stand auf. Jetzt rief die Möwe, stieß einen langgezogenen Schrei aus, einen gegen sein Ende abfallenden Ausruf der Klage, der allem Irdischen galt. Orla trat von der Tür weg, und Conor hob den Kopf.
     
    Wenn eine Freundschaft aus Abenteuern bestand, aus Feldzügen und Eroberungen, wenn sie auf Herumtoben gründete und irrwitzigen Spielen und dem sinnlosen Stauen von Bächen, dann war das, was zwischen Wilbur und Conor bestand, keine Freundschaft. Ganze Nachmittage saßen die beiden im Gras auf dem flachen Erdhügel neben dem Haus, sahen statt aufs Meer hinaus ins Land hinein und redeten nichts oder in knappen Sätzen, wie es alte Männer taten. Eine stille Übereinkunft herrschte zwischen den beiden, die besagte, dass das Leben zu kompliziert sei, um darüber in achtlos hingeworfenen Worten zu plaudern oder es aus einer panischen Langeweile heraus zu verharmlosen, wie es die Mädchen auf dem Schulhof taten.
    Lieber schwiegen sie, als die Stille mit Banalitäten zu stören. Sollten die Erwachsenen über die Farben des Himmels philosophieren und deren Einfluss auf das Wetter, über die Mannschaften fachsimpeln, die es ins Finale im Gaelic Football geschafft hatten, oder über die Gründe spekulieren, warum die siebzehnjährige Rosie O’Sea ins Meer gegangen war, obwohl sie nicht schwimmen konnte. Sie überließen es den Säufern im Pub, die fallenden Preise für Milch und die steigenden für Bier zu beklagen, und den Jungs auf dem Pausenplatz, sich über englische Fußballteams und italienische Rennautos auszulassen. Stumm saßen sie da und beobachteten die Bewegungen im Fell der Hügel, während die Welt aufgeregt und angeödet vor sich hin quasselte.
    Wurde es kühl oder drohte Regen, kam Orla aus dem Haus und holte sie herein. Dann tranken sie in der Küche heiße Schokolade und hörten Musik aus dem neuen Radio, das wie ein silbernes Haus mit blau erleuchteten Fenstern auf dem Regal über der Anrichte stand. Zu denLiedern, die sie kannte, sang Orla mit, und Wilbur senkte verschämt und verzückt den Blick, während seine Füße unter dem Tisch in wildem Takt wippten.
    Conor war diese Musik fremd wie die Bücher, die sich

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