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Nach Hause schwimmen

Titel: Nach Hause schwimmen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carl Hanser Verlag
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ich nach vorne mache, zwei zurück gehen. Ich bin zwanzig Jahre alt. Ich wurde mit Mängeln ausgeliefert. Ich bin ein Wunderkind.
     
    Ich bin ein Leuchtturm, mein Licht streift über das Land und über das Meer. Möwen kreisen unter den Wolken. Im fernen Reich des Ozeans ziehen Fische und ahnen nichts von der Sonne. Ich sitze neben Conor und nenne ihre Namen. Pottwal. Narwal. Buckelwal. Conor sagt Barrakuda und Bonito und Manta. Der Wind riecht nach Lakritze. Unsere dumme Sehnsucht schleppt ein Schiff den Horizont entlang. Chile, Feuerland, Tahiti. Es wird dunkel, Orla ruft nach mir. Der Revolver fühlt sich kalt an in meiner Hand, in meinem Mund.
    Ich wache auf, ein kühler Wind streicht über mich hinweg. Ich spüre das Holz unter mir, die rechte Hand, zwischen Hinterkopf und Bank geraten, ist taub. Hat mich die Stille geweckt? Ich setze mich auf. Der Himmel ist keine Kuppel mehr, er ist eine Zimmerdecke, darin blühen Wolken, Ornamente wie Wasserflecken. Aus der Sicht der Käfer bin ich ein Riese. Ich trete aus dem Schatten der Baumgruppe, gehe ein paar Schritte und schüttle den Arm und die Hand, die daran hängt. Ich kopiere Rons Übungen, aber es ist unpassend und lächerlich, also höre ich auf. Die Stille war die Stille vor dem Regen, jetzt geht ein feiner Schauer nieder, er trommelt leise in den Blättern. Der Rasen knistert, die Erde ist Brausepulver. Ich gehe durch den Birkenwald, den Gedanken, ins Trockene zu fliehen, habe ich verworfen. Der Grund ist weich, in Vertiefungen schmatzen meine Schuhe. Aus dem Nieselregen wird ein heftiger Niederschlag, schwere Tropfen klatschen durch die Äste der Birken, Blätter kreiseln zu Boden. Der Lärm gefällt mir, er übertönt meine Gedanken. Ich ziehe das Hemd über den Kopf und gehe gebückt durch das Prasseln und Klopfen.
    Das Gartenhaus ist so plötzlich da, dass ich beinahe mit dem Kopf dagegen stoße. Der Himmel ist ein Meer, das zur Erde stürzt, der Boden tanzt unter dem Aufprall. Ich öffne die Tür und hebe den Kopf, und es ist wie ein Traum, eine Wiederholung, ein schlechter Witz, einmal zu oft erzählt. Sie steht da, und die Hand des Mannes liegt auf ihrer Brust, es ist Lester oder Fred oder irgendein Neuer, ich weiß es nicht. Das Bild ist eine Inszenierung, der Regen fällt in Wirklichkeit aus Eimern, ich triefe um der Dramatik willen. Aimee sieht mich an. Langsam sinkt die Hand des Mannes, es ist das Zeichen für den Regen, mich in Grund und Boden zu schwemmen. Ich trage den Brief nicht bei mir, und trotzdemzerfließt die Schrift, aus Linien werden Flecken, und zuletzt ist das Blatt blau und gewellt und lesbar wie ein See, Wasserworte. Lester oder Fred sagt etwas, das im Rauschen und Hämmern untergeht. Aimee schlüpft in den Pullover, den sie die ganze Zeit in der Hand gehalten hat, und nimmt dem Mann den Büstenhalter aus der Hand. Lester oder Fred steht so dumm da wie ich. Aimee streicht sich eine Strähne aus der Stirn. Wasser läuft mir über das Gesicht. Ich denke an meinen Trinkhalm, eine Sekunde nur, dann drehe ich mich um und gehe.
    Es ist ganz einfach, die Stadt der Selbstmörder zu verlassen. Man braucht keinen Plan, keine Entlassungspapiere, keinen Stempel. Ich gehe durch den Park zur Gärtnerei, wo alle in den Gewächshäusern auf das Ende des Regens warten. Ich klettere auf einen Lastwagen und setze mich zwischen die Kisten mit Tomaten. Ich sehe in den Himmel, der mir ins Gesicht schlägt, ich zittere, es ist kalt. Dann fahren wir los. Ich lege mich hin, damit der Wind mich nicht trifft. Wir schwimmen auf der Straße, einem schwarzen Fluss. Der Himmel ist so tief, dass meine Mutter mir die Hand reichen könnte. Der Lastwagen schaukelt, und ich schließe die Augen.
     
    Liebe Aimee. Ich habe diesen Brief unter mein Kopfkissen gelegt und hoffe, dass er Dich erreicht. Wenn Du ihn liest, bin ich weg. Ich werde versuchen, draußen zurechtzukommen. Wird schon irgendwie klappen. Ich möchte, dass Du weißt, dass ich Dir nicht böse bin. Eine Zeitlang war ich es, aber das ist jetzt vorbei. Ich weiß nicht, was Du von mir wolltest; jedenfalls war es nicht das, was ich von Dir wollte. Dass ich mich hier drin erholen konnte (wovon genau, werde ich versuchen herauszufinden), verdanke ich trotz allem auch Dir. Ich bilde mir ein, mir wünschen zu müssen, wir hätten uns unter anderen Umständen kennengelernt, im Central Park oder auf einem Flohmarkt, irgendwo, nur nicht hier. Aber dann wird mir bewusst, dass Du außerhalb dieser Einrichtung

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