Nach Hause schwimmen
vermutlich keinerlei Notiz von mir genommen hättest. Hier drin war ich Dein Patient, Dein Job. Ich war Dir zugeteilt, Du hattest gar keine andere Wahl, als mich wahrzunehmen. Dass Dein Interesse an mir anderer als beruflicher Natur sein könnte, kann ich mir nicht vorstellen. Warum Du meine Hand auf Deine nackte Brust gelegt hast, wird mir für immerein Rätsel sein. Ich hätte Dich gerne noch gefragt, wie Du zu Deiner Narbe gekommen bist, den liegenden Halbmond auf Deiner Wange. Auch das werde ich wohl nie erfahren. Ich hoffe, Du wirst irgendwann diese Stadt verlassen. Sie ist kein Ort, an dem man lange bleiben sollte. Alles Gute, Will.
North
1994
Als Wilbur zum ersten Mal vom Mooread-Stipendium für junge Musiker hörte, wusste er nicht, was er davon halten sollte. Matthew zeigte ihm ein Dossier mit Zeitungsausschnitten, einer Broschüre und Bewerbungsformularen. Sie saßen am Tisch, im Hintergrund lief Dvořáks Konzert für Cello und Orchester in h-Moll, und es gab Tee und Kekse, die Pauline Conway gebacken hatte. Die Broschüre war edel, auf ihrem Umschlag prangte ein Wappen, ein Schild mit vier trompetenähnlichen Instrumenten, zu beiden Seiten gehalten von sich aufbäumenden Einhörnern, darunter stand in schattierten Großbuchstaben MOORHEAD FOUNDATION und das Gründungsjahr, 1911. Die erste Seite zeigte den Gründer der Stiftung, Geofrey T. Moorhead, einen ernst in die Kamera blickenden Mann mit Schnurrbart und Stehkragen, der umständlich eine Geige samt Bogen und ein Notenheft in den Händen hält. Auf den nächsten Seiten waren die Mitglieder des Auswahlgremiums abgebildet, Männer und Frauen in fortgeschrittenem Alter, Musiker, Komponisten, Dirigenten. Eine berühmte Opernsängerin war dabei, die zu Beginn ihrer Laufbahn Moorhead-Stipendiatin gewesen war und in einem kurzen Text ihre Dankbarkeit für die großzügige Förderung zum Ausdruck brachte.
Matthew ließ Wilbur in Ruhe alles lesen. Er wusste, dass der Junge eine Begabung hatte, wie man ihr nur selten begegnete. Mit vierzehn spielte er, wie außerordentlich talentierte Achtzehnjährige spielten, mit zwanzig würde er gestandene Cellisten wie Anfänger aussehen lassen.Wilbur lernte nicht Cello spielen, das Instrument war ein lebendiges Wesen, ein Zwillingsgeschöpf, das dem Jungen mit Klängen in Fleisch und Blut überging, ihn mit Tönen besetzte, zurückeroberte. Es füllte Räume in ihm und ließ ihn von innen leuchten.
Matthew wusste von Wilburs Mutter und Orla, aber er konnte nur ahnen, was diese Ereignisse mit dem Jungen gemacht hatten. Er selber war erwachsen gewesen, als seine Eltern starben, und ein Mann, als ihm das Kind genommen wurde. Er hatte gelitten und war darüber hinweggekommen. Er hatte im Kreis von Agnes und Stuart und einem Haufen herrenloser Hunde mit dem Schicksal einen wackligen Frieden geschlossen und seither auf neue Schläge gewartet, die jedoch ausgeblieben waren. Der Schmerz war noch da, aber im Lauf der Zeit zu einem melancho lischen Phantasieren und wehmütigem Heraufbeschwören von Bildern eines erwachsenen William geraten, zu stummen Zwiegesprächen und entrückten Nachmittagen über Fotos und Kinderzeichnungen. Matthew war nicht wunschlos glücklich, aber weit entfernt von Hoffnungslosigkeit. Er lebte, er hörte Musik und las Bücher, und er hatte Wilbur, auch wenn er den Jungen nur als Leihgabe des Himmels betrachtete.
Er hatte sich vorgenommen, seinen Freund ein Stück weit zu begleiten und ihn dann gehen zu lassen. Dass der Abschied möglicherweise näher rücken würde, wenn er in Wilbur den Ehrgeiz weckte, ein Moorhead-Stipendium zu erhalten, war ihm bewusst. Es fiel ihm schwer, sich an die Zeit vor Wilburs Auftauchen zu erinnern, und die Vorstellung, die kommenden Jahre ohne ihn verbringen zu müssen, löste Bestürzung bei ihm aus und Angst vor erneuter Einsamkeit. Trotzdem zeigte er Wilbur die Unterlagen. Die Gewissheit, dass Wilburs Talent der Welt gehörte, bewegte ihn dazu. Das und Stolz und grenzenlose Liebe.
Wilbur und das Cello waren jetzt seit fast zwei Jahren ein Paar. Er liebte dieses Instrument, und wenn er spielte, verschwand er in dessen hölzernem Bauch. Die Griffe, die Fingerbewegungen am Brett, der Druck auf die Saiten, die Züge des Bogens, alles hatte sich in den vergangenen Monaten wie von selbst ergeben. Alles hatte sich zusammengefügt, die Teile ergaben jetzt ein Bild, in dem er sich erkannte, ein verborgenesLächeln im Gesicht. Zu bestimmen, wie gut er war, fiel ihm schwer.
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