Nach Santiago - wohin sonst
noch nicht angekommen! — Als ob ich das nicht selber wüßte. Aber wahrscheinlich ist es nur seine etwas herbe Art, mir alles Gute zu wünschen. Ich bedanke mich freundlich für die wichtige Information und ziehe weiter. Mit Erstaunen vermerke ich jedoch, wie lebendig die Erinnerung an die uralte Tradition des Jakobsweges in diesen entlegenen Dörfern noch ist. Und das, obwohl seine Blütezeit so lange zurückliegt und es noch über 500 Kilometer bis Spanien sind, wo der Jakobsweg ja eine zentrale Rolle für die nationale Identität spielt und die Tradition dementsprechend gepflegt wird.
Am Ortsende von Salvetat beginnt es wieder zu regnen, außerdem wird es kälter. Soviel Sonne und schönes Wetter ich in der ersten Woche hatte, mit soviel Regen und Kälte beginnt die zweite Woche meiner Pilgerfahrt. Um mich zu trösten, sage ich mir, daß dies nur ausgleichende Gerechtigkeit sei, die es anzunehmen gilt. Ich bin ja schließlich kein Tourist und Schönwetterwanderer, sondern eben ein Pilger. Und da kann ich mir das Wetter nicht aussuchen. Aber daß es gleich so dick kommt...
Obendrein verliere ich noch 30 Minuten mit der Suche nach einer Markierung, die mit saftigen Flüchen auf den Führer und die für die Betreuung des Weges Verantwortlichen belebt werden. Das Gelände wird sumpfig, die Markierungen immer seltener und undeutlicher, der Pfad verläuft zickzack durch einen dichten, nicht enden wollenden Wald. Und natürlich weit und breit keine Menschenseele.
Um das Maß vollzumachen, beginnt jetzt noch ein Schneesturm. Jetzt ist die Sammlung aber wirklich komplett: Sonne, Wind, Regen, Kälte und Schnee haben sich bis jetzt als Wegbegleiter abgewechselt. Der Schneesturm hält den ganzen Nachmittag an, und ich komme mir, so völlig alleine in der kalten Wildnis, tatsächlich wie ein Pilger im Mittelalter vor. Es hält mich nur die Gewißheit bei Laune, diesmal am Abend an einem Ort anzukommen, an dem es trocken und warm ist, wo ich mich duschen, ausruhen, wiederfinden kann.
Der Sturm hört am späten Nachmittag auf, die letzten 1 ½ Stunden stapfe ich mutterseelenallein durch tiefverschneite Landschaft, in der sich Wiesen und Wald abwechseln. Es ist wunderschön, aber ich bin hundsmüde — der Ajiz übrigens auch — und möchte nur mehr ankommen.
Gegen 6 Uhr abends, die Dämmerung bricht schon langsam herein, laut Zeitplan müßte ich in etwa 15 Minuten im Gut „La Roussarié“ ankommen, wo mich besagte warme Dusche erwartet, erlebe ich noch ein paar intensive Schrecksekunden. Auf dem verschneiten Weg sind keinerlei Spuren menschlicher Gegenwart zu erkennen! Was tu ich, wenn das Gut den Winter über gar nicht geöffnet ist? Wieder ein Biwak, diesmal im Schnee? Brrrrr! Lieber gar nicht daran denken!
Der gute Geist von Santiago verläßt mich jedoch nicht. Als ich um die letzte Kurve biege, liegt das Anwesen vor mir, und vor dem Haus parkt ein Range Rover! Selten, und schon gar nicht auf meiner Pilgerreise, hat mich der Anblick eines Autos so gefreut wie in diesem Augenblick. Ich bin gerettet!
Beim Anblick der Häusergruppe auf der Lichtung im tiefverschneiten Wald beschließe ich, morgen einen — wohlverdienten — Ruhetag einzulegen. Schließlich bin ich immerhin schon neun Tage ununterbrochen unterwegs und habe fast 300 Kilometer zurückgelegt! Dies ist zwar nicht einmal ein Fünftel der Gesamtstrecke, aber erstens bin ich, wie gesagt, nicht auf der Flucht, und zweitens scheint das Wetter noch für eine Weile so miserabel bleiben zu wollen.
In La Roussarié finde ich tatsächlich, was ich erhofft habe. Die Pferdefarm mit angeschlossenem Gîte, mitten im Wald auf einer — jetzt tiefverschneiten — Lichtung gelegen, wird von einem flämischen Ehepaar geführt, das mich freundlich empfängt und mir gleich das Gîte aufsperrt. An sich sollte der Betrieb erst wieder nach Ostern aufgenommen werden, im Winter kommen ja wirklich kaum Gäste vorbei, aber der Anblick zweier erschöpfter und vollkommen durchnäßter und erfrorener Pilger läßt keinen Augenblick den Gedanken aufkommen, uns weiterzuschicken — wohin denn auch?
Sie laden mich gleich auf eine Tasse Tee in ihr prächtiges, wohlgeheiztes ( riesiger offener Kamin!) Haus ein, wir kommen ins Gespräch und unterhalten uns bald wie alte Freunde. Marc ist Mitte 50, seine Frau Maggy etwas jünger, beide sind sehr engagiert in der europäischen Grünbewegung. Marc arbeitet als Environmental Consultant; mit Telephon, Fax und Internet ist das noch aus dem
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