Nach Santiago - wohin sonst
schützen, und die Karte war, um sie halbwegs trockenzuhalten, unter mehreren Schichten versteckt, was es äußerst kompliziert und umständlich gestaltet hätte, meine Position immer wieder auf der Karte zu kontrollieren.
In dieser besch... Situation tröstet mich nur mehr die paradoxe Hoffnung, daß der „normale“ Weg unter den heutigen Bedingungen vielleicht noch ärger gewesen wäre als der, den ich irrtümlich gewählt habe.
Ich weiß, ich kenne die Geschichte vom Fuchs und den sauren Trauben, aber ein bißchen hilft mir der kleine Selbstbetrug doch... was aber andererseits nichts daran ändert, daß der heutige Tag der schlimmste bisher war und daß ich zum ersten Mal ernsthaft ans Aufgeben gedacht habe. Oder zumindest ans Abbrechen und Verschieben auf unbestimmte Zeit. Anruf in Montpellier bei Jean oder in Perpignan bei Henry mit Bitte um Abholung, oder so etwas Ähnliches. Der vierte Tag mit diesem entsetzlichen Wetter!
Irgendwo habe ich gelesen, daß nur Büßer die Pilgerfahrt nach Santiago im Winter auf sich genommen haben. Also bin ich entweder ein Büßer oder ein Dummkopf oder beides. Ertragen und Durchhalten — das war jedenfalls die einzige „Botschaft“ dieses Tages. Armer Ajiz, was ich ihm da aufhalse! Sein Fell ist klatschnaß, die Satteltaschen ob der Nässe um einiges schwerer, und ich sehe ihm an, wie sehr ihm das Wetter und das Gewicht auf seinem Rücken zu schaffen machen. Aber er hält tapfer durch und stapft unbeirrbar neben seinem fluchenden und schimpfenden Herrn her.
Trotzdem habe ich auch heute wieder ein sympathisches, berührendes Erlebnis. An einer tiefverschneiten Wegkreuzung im Wald sehe ich keine Markierung, zögere und entscheide mich — wie sich gleich herausstellen soll — für den falschen Weg. In diesem Augenblick kommt ein junger Mann aus einem nahegelegenen Haus und ruft mir zu, daß ich den anderen Weg nehmen müsse. Ich bedanke mich, biege auf den richtigen Weg ab, da bittet er mich, einen Moment zu warten, denn er wolle mich, falls ich nichts dagegen hätte, gerne photographieren. Er habe so etwas noch nie gesehen: im tiefsten Winter ein Pilger mit Hund (und Satteltaschen, das ist überhaupt etwas ganz Einmaliges!), er müsse mir seine Hochachtung aussprechen.
Immer wieder diese Mischung aus Neugier, Respekt und Hochachtung, die man mir (uns!) entgegenbringt...
Knapp vor Castres, meinem heutigen Tagesziel, komme ich an einem Zigeunerlager vorbei, einige Buben spielen trotz des Regens im Freien. Großes Hallo, als sie uns erblicken, und gleich laden sie mich ein, bei ihnen im Lager zu übernachten. Mit scharfem Blick haben sie mich als einen der ihren, einen Mann der Straße — und das bin ich ja wirklich — identifiziert. Die Einladung freut und ehrt mich, aber ich lehne sie dankend ab, denn die Nacht im Lager zu verbringen, erscheint mir doch etwas riskant. Soviel ich weiß, teilen die Zigeuner zwar alles mit dir, aber du mußt auch alles mit ihnen teilen. Und danach ist mir heute überhaupt nicht. Vor allem Ajiz, der den Buben sichtlich sehr gefällt, würde ich ihnen auf keinen Fall lassen. Bin ich ein Opfer meiner Vorurteile? Bis in die Stadt hinein beschäftigt mich diese Frage, Antwort finde ich keine. Wahrscheinlich müßte ich es einfach einmal probieren, riskieren.
Die kleine Stadt Castres, an der Agout liegend, befindet sich zweieinhalb Tagesmärsche von Toulouse entfernt. Die Montagne Noir liegt hinter, die Ebene vor mir. In der Stadt gibt es keine Unterkunftsmöglichkeit für Pilger, es wird die erste Nacht in einem Hotel werden. Bei strömendem Regen zu biwakieren kommt gar nicht in Frage und auf der Suche nach einem Gratisschlafplatz die menschenleere Stadt abzuklappern, genausowenig. Da müßte meine Verzweiflung schon riesig und meine Geldtasche leer sein. Da ist eine Hemmschwelle, die zu überschreiten ich — noch — nicht in der Lage bin, vor allem nicht, solange ich genügend Bargeld und für alle Fälle auch eine Kreditkarte bei mir habe.
Montag, 6. März Castres — Revel
Sonne in Sicht
Es dürfte mich im Grunde gar nicht mehr überraschen: in der Früh regnet es nicht, aber zehn Minuten nach dem Abmarsch bricht der erste heftige Regenschauer über mich herein. Gott sei Dank ist es heute jedoch bis zum Nachmittag der einzige richtige. Seit fünf Tagen kann ich zum ersten Mal wieder mehrere Stunden lang ohne Regen oder Schnee wandern. Das Wetter ist zwar kalt und trüb, die Ekstase der ersten Woche ist dick vermummt, aber das
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