Nach Santiago - wohin sonst
Jeannine, meine Gastgeberin, wußte wohl, was einem Pilger zu Mittag wohltut, das Essen nicht zu schwer, der Wein nicht zu stark, ich habe jedenfalls keine schweren Füße. Sie ist eine freundliche, aufgeschlossene und interessierte Frau, die auf ihre „alten“ Tage (sie ist 63) noch Deutsch lernt und vom Oktoberfest schwärmt. Na ja.
Über ihre Gastfreundschaft nimmt sie aktiv teil an der uralten Tradition des Pilgerweges, das macht ihr große Freude und hält sie jung. Eine andere Tradition will — das erfahre ich von Jeannine — , daß ich all jenen, deren Gastfreundschaft ich in Anspruch nehme, aus Santiago eine Postkarte schicke. Ich werde es gerne tun.
Am Nachmittag habe ich wieder mehr mit dem Schlamm zu kämpfen, und zum wiederholten Male ärgere ich mich über die Motocrossler, deren Spuren ich heute schon den dritten Tag verfolge. Anscheinend haben da wirklich zwei Typen eine lange Strecke des GR mit ihren Maschinen befahren und mit den dicken Stollen ihrer Reifen den vom Regen der Vorwoche noch nassen Lehmboden in eine für den Fußgänger äußerst unangenehme, manchmal bis zu den Knöcheln reichende Schlammwüste verwandelt. Obwohl an allen Gattern nicht zu übersehende Verbotsschilder für Motorräder angebracht sind! Aber auch das ist Frankreich: „Je m’en fous“, auf gut deutsch „Ich scheiß’ drauf“, ist eine hier häufig anzutreffende Reaktion auf alles, was nach Regeln oder Verbot riecht.
Noch mehr aber ärgere ich mich — und auch das nicht zum ersten Mal — über die Zeitangaben im Führer, die ich für einen hellen Wahnsinn halte.
Der Autor meines Führers, dieser 1,95 Meter große Ami — oder war er nur 1,90 Meter groß? Ist mir auch sch... Dieser fanatische Geher, wie mir die Ärztin in Gimont erzählt hat, wollte anscheinend einen neuen Rekord für die Strecke von Isle de Noë bis Montesquiou aufstellen, für die ein anderer Wahnsinniger 1 ½ Stunden angeschrieben hatte, wie ich einem Schild am Ortsausgang von Isle de Noë entnehme. Und das für eine Strecke von etwa acht Kilometern, hügelig, ständig bergauf, bergab! Das bedeutet einen Schnitt von knapp unter sechs Stundenkilometern, mit einem schweren Rucksack! Die Zeitangabe im Führer für dieselbe Strecke ist 1:27 Stunden — also drei Minuten weniger... Ich gehe meinen gewohnten Schritt, vielleicht sogar etwas schneller, aber ich brauche fast zwei Stunden. Ich kann gut damit leben, daß ich die Rekordzeit nicht unterboten habe, ein Wettlauf nach Santiago soll meine Pilgerfahrt wirklich nicht werden, aber es ist wahnsinnig frustrierend, wenn man laut Wegbeschreibung im Führer gleich zu einem bestimmten Orientierungspunkt kommen sollte und dieser nicht und nicht kommt!
Im Führer sind die Zeitangaben immer mit einem markanten Punkt in der Landschaft kombiniert, damit die Orientierung leichter fällt. („... nach dem Ortsschild nach 100 m Feldweg nach NO, nach 12 Minuten freistehende Eiche links vom Weg, von dort...“) Im Prinzip eine vernünftige Sache, es erleichtert die Orientierung, ermöglicht die permanente Überprüfung des Standortes und ist vor allem dort wichtig, wo die Route eher dürftig markiert ist. Aber wenn die besagte Eiche nach 15 statt der angegebenen 12 Minuten noch nicht einmal am Horizont auftaucht, beginne ich natürlich an der Richtigkeit des eingeschlagenen Weges zu zweifeln. Und das passiert immer wieder. Wenn ich diesen langen Lulatsch treffe, der sich auf der heutigen Etappe ausgetobt hat und anscheinend glaubt, alle gehen so schnell wie er, werde ich ihm einmal deutlich die Meinung sagen!
Am Ende des Tages, bei meiner Ankunft in Montesquiou, werde ich aber für den Arger mehr als entschädigt: Die Ankunft und Aufnahme bei den Phiquepals, einer alten, ehrwürdigen, gutkatholischen Landadelfamilie, auf ihrem Gut ist einzigartig und läßt mich schlagartig den amerikanischen „Hetzer“ vergessen. Jeannine hatte mich von Barrán aus schon telephonisch angekündigt, Name und Telephonnummer der Phiquepals stehen in meinem Führer (er hat auch seine guten Seiten, das gebe ich gerne zu). Sie erwarten mich schon, vergewissern sich noch, daß ich auch wirklich ein Pilger bin — das sieht man eigentlich, aber sie fragen mich trotzdem — , und verwöhnen mich dann wie in einem Luxushotel. Ich weiß zwar nicht, nach welchen Kriterien sie entscheiden, ob jemand ein echter Pilger ist, aber ich verstehe sehr gut, daß sie nicht von als Pilgern getarnten Touristen als Gratisbleibe mißbraucht
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