Nach Santiago - wohin sonst
frequentierte der vier französischen Jakobswege ist, weil er der unberührteste und wildeste ist. Und ich muß zugeben, daß es gerade die Einsamkeit, die Unberührtheit und die damit verbundene Schwierigkeit des „Chemin d’Arles“ waren, die ihn für mich so reizvoll machten und ihn als authentisch erleben ließen.
Da ich schon am frühen Nachmittag — 15 Uhr 30 — in Osse bin, habe ich genügend Zeit, um Wäsche zu waschen (schon überfällig), in der Sonne zu sitzen, Kaffee zu trinken und zu lesen, diesen herrlichen Sonntagnachmittag einfach in jede Pore meines Körpers einsickern zu lassen.
Das Dorf ist charakteristisch für die Pyrenäen, graue Häuser mit grauen Schindeldächern ducken sich gegen den Hang, der Duft von Holzfeuern liegt in der klaren Bergluft. Die Stimmung ist sehr heimelig, fast erinnert sie mich an „mein“ Indianerdorf im Hochland von Guatemala, in dem ich als 18jähriger ein Jahr lang gelebt habe — im Rückblick eine der wichtigsten Weichenstellungen in meinem Leben. Meine heute noch starken „lateinamerikanischen“ Wurzeln reichen bis in jene Zeit zurück. Ich weiß, die Nase hat ein unwahrscheinliches Gedächtnis.
Ich zünde später ein Feuer im Kamin an, bereite mein Abendessen — die zweite Hälfte des „Confit“ ist dran, und als Vorspeise gibt es natürlich ein Stück der Pyrenäen-Hartwurst. Auch Ajiz bekommt sein Sonntagsessen, die Spende des freundlichen Metzgers von Sarrance, Fleisch und Knochen vom Lamm! In Erinnerung an die Begegnung zu Mittag wird mir wieder ganz warm ums Herz, und ich denke mir, daß man schon Pilger sein muß, um all das zu erleben. Wäre ich „normaler“ Tourist, würden mich die Leute sicher nicht so freundlich behandeln.
Morgen geht es hinauf zum Col du Somport, hoffentlich hält das Wetter. Auf jeden Fall werde ich streckenweise nicht dem Führer folgen, sondern meinen eigenen Weg ziehen. Der spielt nämlich wieder verrückt, das kann ich schon beim Kartenstudium erkennen. Und aus den Erfahrungen von heute habe ich auch gelernt...
Vorher werde ich aber noch zur Post gehen. Einerseits möchte ich den Führer für den französischen Teil heimschicken — heute abend wird er noch feierlich verpackt — , andererseits hoffe ich, daß postlagernd etwas für mich angekommen ist. So ein eingefleischter Einsamkeitsfanatiker bin ich ja nun doch nicht, daß nicht Briefe von der Familie oder von Freunden mein Herz erfreuen würden.
Montag, 20. März Osse-en-Aspe — Canfranc
Adieu la France, bienvenida España!
Die bisher längste Etappe: 46 km!
Der Tag beginnt gut, es herrscht klares, frisches Bergwetter. Im Postamt warten tatsächlich Grüße aus der Heimat auf mich — ein Brief von meiner Familie und die offizielle Todesanzeige von Reinhard. Ich hatte schon telephonisch von seinem plötzlichen Tod erfahren und im Laufe der letzten Wochen mehrmals an ihn und jene, die ihn geliebt haben, gedacht. Der heutige Tag wird ihm gewidmet.
In Etsau treffe ich eine Gruppe von Umweltaktivisten, als ich in ihrem Hauptquartier, einem aufgelassenen Bahnhof, um Wasser für Ajiz bitte. Sie kämpfen gegen den Bau des Autotunnels durch den Col du Somport, da sie, wahrscheinlich zu Recht, befürchten, daß der Bau eines Tunnels vor allem den Schwerverkehr anziehen und damit die Ruhe und Schönheit des Tales zerstören würde. Das kommt mir doch bekannt vor — Transitproblem in den Alpen!
Sie erzählen mir, daß es für eine Strecke von etwa 2,5 Kilometer einen schönen Pfad auf der anderen Flußseite als Alternative zum Asphaltband der Straße gäbe. Der kleine Steg, der dann über den Fluß zurück zur Straße führe, sei nämlich nach dem Hochwasser im Winter wieder repariert worden. Ich benütze also diesen Pfad — er ist wirklich schön — , der am Fluß entlangführt, über Wiesen, durch kleine Waldstücke und vor allem weit entfernt von den Autos. Nach einer halben Stunde (also etwa 2,5 Kilometer bei zügigem Tempo) beginne ich nach dem Steg Ausschau zu halten. Als dieser um nichts in der Welt auftauchen will, der Pfad aber immer undeutlicher wird, beschließe ich umzukehren und ärgere mich natürlich über die Fehlinformation der Ökos und die verlorene Zeit. Also zurück zum Start und dieselbe Strecke auf der Straße. Eine dreiviertel Stunde später bin ich wieder auf der Höhe der Stelle, wo ich umgekehrt bin, und sehe etwa 150 Meter weiter den Steg! Ich könnte mir ein doppeltes Monogramm in den Hintern beißen! Warum hatte ich so wenig
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