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Nach Santiago - wohin sonst

Nach Santiago - wohin sonst

Titel: Nach Santiago - wohin sonst Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Lindenthal
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Patres zu Abend, auch Ajiz wird wieder üppig verpflegt, nachdem der hauseigene Hund in den Garten verbannt worden ist, damit es nicht zu Platzhirschkonflikten zwischen den beiden Rüden kommt. Er frißt seine Schüssel leer, schläft aber gleich wieder weiter. Ich glaube, er hat letzte Nacht sehr wenig geschlafen, mehrmals bin ich vom Lärm der im Hof spielenden Hunde aufgeweckt worden.
    Heute ist mir etwas ganz Blödes passiert: Beim Metzger in Morlaas, wo ich Fleisch für Ajiz gekauft habe, habe ich meinen Pilgerstock stehengelassen! Bemerkt habe ich es aber erst über eine Stunde später, fast schon am Stadtrand von Pau, auf jeden Fall zu spät zum Umkehren. Interessant ist, wie ich es bemerkt habe. Während des Gehens spürte ich, daß irgend etwas anders war als gewohnt. Erst nach längerem Nachdenken bzw. — spüren kam ich darauf, daß ich beide Hände frei hatte, mir das vertraute Gewicht des Stockes in einer Hand und das Tok bei jedem vierten Schritt abging! So lange bin ich nun schon unterwegs, daß mein Körper Veränderungen, die mit meiner neuen Lebensform, dem Gehen, zu tun haben, schneller registriert als mein Bewußtsein... Also das ist klar: Ohne meinen Haselnußstock — geschnitten auf der Hungerburg oberhalb von Innsbruck — gehe ich auf keinen Fall weiter! Morgen früh werde ich sehen, wie ich ihn wiederbekomme.
    Dies ist der Moment, endlich meinem stummen, treuen und verläßlichen Begleiter ein Loblied zu singen. Ohne den Stock käme ich sicher nicht so gut voran. Er ist gerade, kräftig gebaut, gut getrocknet, also nicht zu schwer, und ziemlich lang. Er reicht mir bis über die Schulter. Es ist unglaublich, für wie viele Zwecke er mir dienlich ist. Zuallererst markiert er meinen Gehrhythmus: bei jedem vierten Schritt setze ich ihn auf — Tok, 2, 3, 4; Tok, 2, 3, 4... manchmal ist dies die einzige Musik, die ich höre. Es brauchte eine Zeitlang, bis die Bewegung selbstverständlich und automatisch wurde, aber jetzt klappt es ausgezeichnet. Mittlerweile setze ich ihn sogar links — ich bin Linkshänder — und rechts gleich gut ein.
    Dann ist er mir sehr nützlich in schwierigem Gelände: als „drittes“ Bein zum Abstützen in Schlamm und Sumpf, als Stab zum Überspringen von Bächen, zum Niederdrücken von Stacheldraht (kommt leider auch vor), beim Überqueren von Zäunen (nicht alle Grundbesitzer halten ihre Wege für Pilger frei), zum Zurückdrängen von Brombeerranken, zum Niederhauen von Brennesselstauden und auch zum Fernhalten allzu aufdringlicher Hunde, wenn die Gegenwart von Ajiz alleine nicht ausreicht, was aber nur selten der Fall ist. Bisher mußte ich Ajiz nur einmal zu Hilfe eilen, als ihn ein großer Schäferhund attackierte und er, mit seinen Satteltaschen doch ziemlich in seiner Bewegungsfreiheit eingeschränkt, einigermaßen in Bedrängnis geriet. Und zuguterletzt benütze ich ihn auch als Stange zum Trocknen von Socken, T-Shirt, Unterwäsche...

4. Kapitel

La Grande Traversée — des Pyrenées

Freitag, 17. März Pau — Lacommande

Priez pour nous à Compostelle!

    Der Stock ist wieder da! Der Onkel des Metzgers, bei dem ich ihn gestern in Morlaas vergessen habe, ist auch Metzger und hat sein Geschäft gleich gegenüber der Pfarrkirche Notre Dame in Pau , und ein Angestellter hat ihn — den Stock — am Vormittag mitgenommen. Halleluja, ich bin wieder komplett! Nach einem einfachen Mittagessen mit den Patres breche ich, verspätet, aber frohgemut, zu einer verkürzten Etappe auf. Jetzt macht es sich bezahlt, daß ich in den Vortagen so etwa drei Stunden Vorsprung auf meine Marschtabelle angesammelt habe, die brauche ich jetzt auf, um zum Etappenziel Lacommande zu kommen. Noch gilt es, Pau auf vielbefahrenen Straßen zu durchqueren, aber nach ungefähr 1 ½ Stunden bin ich wieder am markierten Weg, den ich am Vortag in Morlaas verlassen habe. Die Pyrenäen kommen immer näher, es geht bergauf, bergab, eigentlich ziemlich anstrengend. Aber die Etappe ist kurz, schon um 17 Uhr bin ich in Lacommande. Ärgerlich war auf dem Weg nur wieder einmal der deutliche Hinweis auf meine „Freunde“, die Motocross-Fahrer — Arschlöcher! Sie wollen doch nicht wirklich bis nach Santiago fahren? Wahrscheinlich sind es eh immer andere, die den Jakobsweg als Rennpiste mißbrauchen, aber für mich sind es ein- und dieselben, die mich schon seit Toulouse quälen...
    Lacommande war im Mittelalter eine „Commanderie“, die Niederlassung eines Ritterordens auf dem Jakobsweg. Im

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