Nach Santiago - wohin sonst
Vertrauen in die Auskunft der Ökos, mit denen mich ja doch eine gewisse Seelenverwandtschaft verbindet?
Das Tal wird enger und steiler, jetzt fehlt wahrscheinlich nicht mehr viel bis zum Paß. Aber wenn ich geglaubt habe, das Schlimmste läge nun hinter mir, habe ich mich gründlich getäuscht. Das vorletzte Stück vor dem Col du Somport kann ich nur mit dem Wort entsetzlich beschreiben. Kein Weg, keine Markierung, nur homöopathische Spuren eines alten, verwachsenen Pfades, Schlamm, Dornen, fast undurchdringliche Ginsterhecken. Wir haben größte Mühe, nicht nur den „Weg“ nicht zu verlieren, sondern überhaupt voranzukommen. Besonders Ajiz hat große Probleme, da er mit den Satteltaschen, die ihn ja erheblich breiter machen, immer wieder im dichtstehenden Gestrüpp hängenbleibt. Ich selber habe so mit mir und meinem schweren Rucksack zu kämpfen, daß ich sie ihm leider nicht abnehmen kann. Aber schließlich schaffen wir es, ich mit viel Schweiß und noch mehr Fluchen, Ajiz mit seiner bewundernswerten Geduld und Ausdauer. Wieder einmal mein segensreicher Führer! Ich verstehe schon, daß die Alternative zu dieser Quälerei wahrscheinlich noch entsetzlicher ist, sich nämlich viele Kilometer in endlosen Kehren der Straße entlang zur Paßhöhe zu schleppen und dabei jede Menge Abgase zu schlucken. Aber man könnte doch zumindest auf den Zustand des Weges hinweisen — im Führer jedoch kein Wort davon! — oder vielleicht gar für eine ausreichende Markierung sorgen! Vom Instandsetzen des Weges wage ich gar nicht zu träumen.
Wie auch immer, wir sind fast oben. Und es hätte noch viel viel schlimmer kommen können, dessen bin ich mir schon bewußt. Wir hatten einen traumhaft schönen Tag und bis zur Paßhöhe schneefreies Gehen. Genausogut hätten wir in einen Schneesturm, Nebel, ärgstes — und gefürchtetes — Pyrenäen-Winterwetter geraten können. Ich habe gehört, daß der Paß manchmal sogar im Sommer wegen Schneefalls unpassierbar ist. Also trotz allem, toll war es!
Auf den Schattenhängen liegt noch jede Menge Schnee, ich nehme Ajiz endlich seine Satteltaschen ab, und er wälzt sich genüßlich und ausgiebig in seinem geliebten Element. Bis zum Abstieg auf der spanischen Seite trage ich seine Taschen, damit er sich einmal richtig austoben kann. Etwa um 18 Uhr sind wir oben. Spanien!
Das Überschreiten der Grenze wird nicht gefeiert, ich mache keine Pause. Es wird spät, Wolken ziehen auf, es ist bitterkalt. Da ich nicht in die Dunkelheit geraten will — bis zur ersten Pilgerherberge auf spanischer Seite, in Canfranc, sind es noch mindestens zwei Stunden — , mache ich mich lieber auf die Socken. Außerdem fühle ich mich auf der Paßhöhe, inmitten der Schilifte und der Riesenhotels, ganz und gar fremd. Irgendwo müßte eine Gedenktafel stehen, die auf das Pilgerhospiz Santa Cristina hinweist, das sich auf dem Paß befunden hatte — es gehörte neben den Hospizen von Jerusalem und vom Großen Sankt Bernhard zu den drei größten und wichtigsten Pilgerhospizen der Christenheit im Mittelalter — , aber ich verzichte darauf und mache mich gleich an den Abstieg. Schnell
geht es auf der anderen Seite hinunter, nach den ersten paar hundert Metern liegt der Camino breit und deutlich vor mir, üppig markiert! Was für ein Wechsel! Ich habe mir also nicht zuviel erwartet. Der mühselige Aufstieg liegt hinter mir, vergessen ist das Fluchen. Der Camino hat mich! Mir fällt ein, daß der Jakobsweg auch „Weg der Kraft“ genannt wird, denn die spüre ich jetzt, während ich ausschreite, als würde ich den Tag eben erst beginnen. Sogar das Tok-2-3-4 klingt froher, energischer. Ich weiß, das ist meine subjektive Einbildung, ich bin jetzt nicht von einer schlechten in eine gute Welt gewechselt. Der „Chemin d’Arles“ war schön abenteuerlich, abenteuerlich schön, das wird mir sicherlich erst später richtig bewußt werden, aber Tatsache ist, daß wir einen großen und schwierigen Teil des Weges, praktisch die Hälfte, hinter uns gebracht haben, ohne Probleme, bei bester Gesundheit, sozusagen mit Bravour — beide!! Und das erfüllt mich mit Stolz, Dankbarkeit und eben auch mit neuer Energie.
Es wird dunkel, jetzt ist die Nacht doch noch über uns hereingebrochen. Die letzten fünf Kilometer bis Canfranc lege ich auf der Straße zurück, im Dunkeln würde ich die Wegmarkierungen nicht sehen können und zum Herumirren in der Kälte habe ich heute keine Lust mehr.
Um 20 Uhr sind wir in Canfranc. Der
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