Nach Santiago - wohin sonst
Friedhof hinter der romanischen Kirche finde ich wieder, wie in Usclas du Bose, die rätselhaften Scheibenstelen auf den uralten Pilgergräbern.
Laut Pilgerführer soll es im Ort eine Herberge geben, doch der Bürgermeister gesteht auf meine Anfrage hin, daß diese sich immer noch im Projektstadium befinde. Er könne mir aber die überdachte Vorhalle der mittlerweile aufgelassenen Schule als Schlaflager anbieten. Gerne nehme ich sein Angebot an, mehr als ein Dach über dem Kopf, ein Klo, fließendes Wasser und die alten Schulbänke und — tische, die ich zu einem Schlaflager bzw. Eßplatz zusammenschieben kann, brauche ich wirklich nicht. Da habe ich schon unter ganz anderen Bedingungen die Nacht verbracht! Proviant habe ich auch genug, mir fehlt nichts.
Doch es kommt wieder einmal ganz anders, nämlich noch besser, und wieder einmal ist Ajiz „schuld“ daran!
Da ich im Garten des Hauses gegenüber der Schule einen Hund spielen gesehen habe, bin ich sicher, daß seine Besitzer einen richtigen Futternapf haben, und beschließe, mir denselben für Ajiz auszuleihen. Natürlich kann Ajiz auch die kleine Aluschüssel von meinem Eßgeschirr verwenden, aber ich muß sie immer zwei- bis dreimal nachfüllen, und das ist schon etwas lästig. Warum also heute, zur Feier des Tages, nicht einfach ein kleiner Luxus? Der Hundebesitzer, er ist auch der Vater der beiden Kinder, die mit dem Hund im Garten spielen, ist sehr freundlich und bringt mir auch gleich den Napf, den er mir über den Zaun reicht. Dabei fragt er mich, wer wir sind, woher wir kommen, wohin wir gehen..., was man halt einen Reisenden fragt. Und bald hat sich ein angeregtes Gespräch über den Zaun hinweg entwickelt. Nach einer Weile gesellt sich seine Frau zu uns, die mich schließlich auffordert, doch hereinzukommen und mit ihnen einen Aperitif zu trinken. Irgendwann, die Atmosphäre wird immer netter und vertrauter, heißt es dann: „Aber jetzt bleiben Sie schon zum Abendessen!“ Und ein paar Stunden später (in der Zwischenzeit hat Ajiz natürlich auch sein Abendessen bekommen, der Futternapf bleibt sozusagen im Haus): „Du wirst doch nicht auf einer Schulbank da draußen in der Kälte schlafen, das kommt gar nicht in Frage! Und überhaupt, es ist eine Schande, daß dir der Bürgermeister nichts Besseres angeboten hat!“
Wie schon so oft vorher weckt mein Bericht von meiner Pilgerfahrt großes Interesse, es ist, als würde ich in den Menschen eine verborgene, vergessene Saite zum Schwingen bringen, eine uralte Sehnsucht wieder wach werden lassen. Ist es das kollektive Gedächtnis an diese 1000jährige Tradition, das in uns schlummert, ist es Sehnsucht nach ähnlichen Erfahrungen? Ich weiß es nicht, aber es muß etwas ganz Starkes sein, das mein Auftauchen und mein Bericht von der Pilgerreise in den Menschen wachruft . Josy, die Frau, bittet mich im Verlauf des Abends, für sie und die ganze Familie in Santiago zu beten, sie machten gerade eine schwierige Zeit durch. Wer bin ich, daß mich fremde Leute um so etwas bitten?
Es ist schon weit nach Mitternacht, als ich, leicht beschwipst und rundum zufrieden, ins Bett sinke, das mir meine Gastgeber im Wohnzimmer gerichtet haben. (Irgendwann am Abend war ich in die Schule zurückgegangen und hatte meine Ausrüstung zusammengepackt.) Es ist schön, Pilger zu sein!
Samstag, 18. März Lacommande — Oloron Ste. Marie
Erste Pyrenäenetappe
In der Früh weckt mich Kaffeeduft, ich habe keinen Kater und bin bestens gelaunt. Die beiden Mädchen, Aurianne und Emilie, sind ganz in Ajiz verliebt und möchten uns unbedingt ein Stück begleiten. Emilie, die Altere, duzt mich plötzlich, und Aurianne ist überhaupt ganz zutraulich geworden, so als würden wir uns schon ewig kennen. Heute ist ihr fünfter Geburtstag! Da dürfen sie mich natürlich ein Stück begleiten, Aurianne trägt voller Stolz meinen Stock. Zum Abschied küssen mich beide noch, und dann hat mich die Straße wieder. Der Rucksack ist noch schwerer als gestern, genau um das Gewicht eines großen Einweckglases, das mit „Confit de Canard“ gefüllt ist, hausgemacht! Josy ließ mich nicht ohne dieses Geschenk, ihre Spezialität, gehen.
Der Tag zieht sich, es ist schwül, vielleicht spüre ich doch die Nachwirkungen des langen Abends in Lacommande? Am Nachmittag bin ich jedenfalls in Oloron Ste. Marie, einem Städtchen am Ausgang des Aspe-Tales, das mich in den nächsten zwei Tagen zum höchsten Punkt meiner Pilgerreise, dem Col du Somport, 1635
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