Nach Santiago - wohin sonst
fahre ich noch kurz nach St. Jean zu mir nach Hause, „erleichtere“ mich, indem ich einen Teil des Gepäcks zurücklasse — die Wintersachen brauche ich nun wirklich nicht mehr! — , trinke mit meinen Freunden im Dorf einen Pastis und kaufe Wein für Jean und Miguel. Als kleines Dankeschön für ihre Solidarität sozusagen.
Ich bin wieder startbereit, aber irgendwie zerrissen. Der „Camino“ fehlt mir, das Haus in St. Jean wird mir bald fehlen, das Sabbatjahr geht dem Ende entgegen, und nach Österreich kehre ich eigentlich auch gerne zurück. Bald wird es wieder heißen, Vertrautes und Gewohntes loszulassen. Der Moment des Loslassens ist immer schwierig, aber ist der Schritt einmal gesetzt, geht es wieder, und das Unterwegssein auf etwas Neues hin ist sowieso immer spannend.
Am Dienstag „beame“ ich mich mit dem Auto zurück zu Peggy und Miguel nach Vitoria — sieben Stunden Fahrt! Und wieder die Begegnung mit Plätzen, die ich vor Wochen als Fußgänger kennengelernt habe. Erinnerungen werden wach, und so etwas wie Heimweh, eine leichte Wehmut, überkommt mich. Es war wunderschön, aber es ist Vergangenheit! Die Vorfreude auf das Wiedereinklinken in den Camino, auf das Wiederfinden der Langsamkeit, wird aber bald stärker. Auch das schlechte Gewissen, das ich verspüre, weil ich Ajiz zurücklasse, weicht langsam dieser Vorfreude. Beim Dahinrasen auf der Autobahn, wieder in dieser unwirklichen Dimension der Zeit und Geschwindigkeit, fallen mir die nordamerikanischen Indianer ein, die immer, wenn sie längere Strecken zu Pferd zurücklegen mußten, in regelmäßigen Abständen vom Pferd stiegen und sich eine Weile auf den Boden legten, um ihrer Seele, die ja viel langsamer unterwegs ist, Gelegenheit zu geben, sie wieder einzuholen. Ab morgen bin ich wieder im Rhythmus meiner Seele unterwegs!
Apropos Seele: Seit ich die Pyrenäen überschritten habe, widme ich jeden Tag einer Person, die mir nahesteht. Eltern, Geschwister, Freundinnen, Freunde, Patenkinder... Als ich gestern in St. Jean war, habe ich erfahren, daß Dominique, ein Freund aus alten Zeiten, am 24. März seiner schweren Krankheit erlegen ist. Ich bin mir nicht sicher, aber es muß um den 24. herum gewesen sein, als ich ihm einen Pilgertag gewidmet habe...
Die Begegnung mit Dominique und seinen Freunden vor mehr als 20 Jahren — ich war nach dem Abschluß meines Studiums 1974 per Anhalter kreuz und quer durch Südfrankreich gereist — war der Beginn von unzähligen Freundschaften mit Menschen aus dem Languedoc, und auch der Beginn einer intensiven „Liebesgeschichte“, die mich bis heute mit dieser Region im Südwesten Frankreichs verbindet.
Wie viele andere Bewohner der eher kälteren Regionen Europas schwärmte ich als Student für die Provence, ihren Duft nach Knoblauch, Thymian und Lavendel, ihre Sonne, ihren Wein, ihre Pinienwälder, ihre wilden Schluchten und nicht zuletzt ihre immens reiche Geschichte und Kultur. Der Höhepunkt dieser „Provençophilie“ sollte — so dachte ich jedenfalls — ein ganzes Jahr (1974) werden, das ich in einer politisch engagierten Landkommune im Hinterland der Provence, in Longo Mai, verbringen wollte. Durch meine langjährige Beschäftigung mit der Dritten-Welt-Thematik neben und während meinem Volkswirtschaftsstudium, vor allem aber durch das Jahr, das ich im Indianerhochland von Guatemala verbracht hatte, sah ich mich außerstande, eine Berufslaufbahn als klassischer Volkswirt einzuschlagen. Was ich aber statt dessen tun sollte, war mir nicht ganz klar. So schien mir die Möglichkeit, ein Jahr lang in der Provence zu leben, in Longo Mai neue Erfahrungen zu machen, meinen Horizont zu erweitern und eventuell berufliche Perspektiven zu entwickeln, äußerst verlockend. Nun, das Jahr dauerte ganze drei (!) Tage. Longo Mai entpuppte sich als (politische) Sekte, paranoid, extrem hierarchisch strukturiert und mit einer eindeutig auf die Entindividualisierung seiner „Untertanen“ — als solcher fühlte ich mich sehr rasch — abzielenden Praxis. Noch heute graut mir vor einer nach den Ideen von Longo Mai (1974, wohlgemerkt, heute sieht es vielleicht anders aus) gestalteten Welt.
Da ich mich aber von Freunden und Familie für ein ganzes Jahr verabschiedet hatte und außerdem keine Ahnung hatte, was ich mit den verbleibenden 362 Tagen dieses Jahres anfangen sollte — auch die Enttäuschung über diesen Reinfall mußte ich erst noch verdauen — , beschloß ich einfach, per Anhalter die Provence
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