Nach uns die Kernschmelze
Argumentation ist noch nicht gegeben. Vielmehr haben sich meiner Kenntnis nach die Befürworter der Kernenergie noch nicht der Mühe unterzogen – offenbar in der großen Sicherheit der Durchschlagkraft ihrer Argumente –, auf die Fülle der Einwände, Materialien, Überlegungen und Fakten im Einzelnen einzugehen, die neuerlich z.B. in dem erwähnten Buch von Krause, Bossel und Müller-Reißmann oder in den Aufsätzen des Physikers Geserich 2 in der Zeitschrift »Scheidewege« und von einigen anderen vorgelegt wurden – sehr ausführlich quantifizierte Darstellungen.
Gesetzt den Fall, jemand befände sich in der Situation, zwischen den beiden Risikokomplexen abwägen zu müssen, so scheint mir doch folgende Situation zwingend: Die Rede von den sozialen Sachzwängen, von unvermeidlicher Arbeitslosigkeit, von unvermeidlichen Verteilungskämpfen ist, wie mir scheint, für eine freie Gesellschaft höchst bedenklich. Eine solche Rede unterstellt ja, dass die gesellschaftlichen Prozesse wie Naturprozesse zu beurteilen sind und den gleichen Determinismen unterliegen. Gerade das aber ist es, was die Feinde unserer freien Gesellschaftsordnung stets behaupten. Wenn wir uns für unfähig erklären, Arbeitsverkürzungen, Umverteilung von Arbeit, Abflachung des Wachstums – sogar Konsumeinschränkungen werden von einem Teil der Vertreter des sanften Weges für tolerabel gehalten, um alle diese Dinge zu nennen –, solche Probleme mit unserem freien System zu bewältigen, dann wäre dies der Beweis, dass das System gar nicht wirklich frei ist. Wir liefern damit den revolutionären Tendenzen die Legitimation sozusagen frei Haus.
Des Weiteren würden es uns kommende Generationen nicht verzeihen, wenn wir ihnen erstmals in der Geschichte der Menschheit bewusst sehenden Auges neue echte Naturzwänge hinterließen, nur weil wir unsere sozialen Probleme fälschlich für Sach- und Naturzwänge ausgegeben haben. Sie werden sagen, wir hätten unsere sozialen, ökonomischen und politischen Probleme gehabt, hätten erklärt, das seien Quasi-Naturzwänge, und hätten sie mit echten Naturzwängen eingebaut, mit denen sie nicht mehr beliebig verfahren, die sie nicht beliebig transformieren können. Dass freie Gesellschaften solchen Sachzwängen tatsächlich dann nicht unterliegen, wenn sie vor einer Notwendigkeit zu stehen glauben, das beweist die Existenz des Militärs. Hier führt nämlich der Wille zur Verteidigung der eigenen Existenz zu Aufgaben, die unter ökonomischen Gesichtspunktensinnlose Ausgaben sind. Warum sollten nicht andere Gemeinschaftsaufgaben ähnlich imperativen Charakter bekommen können, wenn das Bewusstsein der Notwendigkeit, vor der wir stehen, ebenso stark ist?
Tatsächlich ist das Anpassungsvermögen einer freien Gesellschaft und einer Marktwirtschaft an neue Herausforderungen erstaunlich und weit größer als dasjenige totalitärer Planwirtschaften. Es ist ganz unsinnig und eine merkwürdige Allianz, dass heute oft Anhänger totalitärer Planwirtschaften sich als Verteidiger sanfter Techniken empfehlen. Das ist im Grunde nur mala fide oder in Unkenntnis geschehen, denn die Flexibilität von Marktwirtschaften gegenüber Herausforderungen ist zweifellos größer als die von zentralen Verwaltungswirtschaften. Nur: Freie Gesellschaften reagieren im Allgemeinen erst, wenn die Herausforderung sie mit dem Rücken an die Wand bringt. Und hier hat nun meiner Ansicht nach die Erfindung der Kernspaltung eine sehr ambivalente, in gewisser Hinsicht lähmende Wirkung. Sie erscheint nämlich sozusagen als deus ex machina , als Geschenk des Himmels, und beseitigt für uns das Gefühl, mit dem Rücken an der Wand zu stehen. Die entscheidende Erfindung scheint ja nun gemacht zu sein, und dieses Gefühl legt ein ungeheures Potential an Phantasie und Erfindungsgabe lahm. Aber woher nehmen wir denn eigentlich den Leibniz’schen Glauben an eine prästabilierte Harmonie zwischen bestimmten menschlichen Erfindungen und den Notwendigkeiten der Geschichte? Es sieht ja, wenn man die Diskussionverfolgt, so aus, als ob es manchen Leuten so vorkomme, als bestünde hier zwar wirklich ein Problem, aber der Himmel habe uns die Lösung für dieses Problem beschert, und wenn diese Lösung uns nicht beschert worden wäre, stünden wir vor der Menschheitskatastrophe. Was wäre denn, wenn die Kernspaltung erst im Jahre 2200 entdeckt worden wäre? Wer würde denn im Ernst behaupten, das wäre die Menschheitskatastrophe? Wer würde behaupten,
Weitere Kostenlose Bücher