Nachdenken ueber Christa T.
Platz trieb und uns immer zur Eile zwang, hat sich wirklich gelegt. Das war das letzte, was ich erwarten konnte, jedoch die Rabatten erklären auch das.
Im Innern des Gebäudes übrigens würde ich wenig verändert finden, weniger, als man wünschte. Der Innenhof auch von der neuen Generation unbetreten, immer noch behütet durch das Schild: Vorsicht! Einsturzgefahr!, obwohl wenig wahrscheinlich ist, daß die im Krieg beschädigte Dachkonstruktion nach mehr als zwanzig Jahren doch noch einstürzen wird. Die Studenten von heute würden, wie wir damals, gleichgültig an dem Schild und an mir, der Fremden, vorbeigehen, ich müßte mir einen Ruck geben und mir klarmachen, daß sie mich nicht als ihre Altersgenossin erkennen können, sosehr ich es auf beunruhigende Weise in diesen Wochen bin. Ich würde auf der Treppe – immer die gleichen ausgetretenen Steinstufen, immer noch der Zugwind durch das unreparierte Dach – einen von ihnen ansprechen, ihn nach Frau Doktor Dölling fragen. Er würde nicht zögern mit der Antwort wie ich mit meiner Frage, weil ich zuerst das Bild der schmalen, blassen Gertrud Born beiseite schieben muß, ehe ich ihren neuen Namen und ihren neuen Titel ohne Stocken sagen kann. Natürlich würde ich sie da antreffen, wo man auch vor zehn, elf Jahren die Dozenten traf. Ich würde anklopfen und eintreten, Gertrud Born würde aufblicken und mich erkennen. Ob ihre Freude gekünstelt wäre oder echt, das würde viel entscheiden.
Nehmen wir an, ihre Freude wäre echt. So würde sie sich doch, nach wenigen Minuten, wundern, warum gerade Christa T. – von allen unseren Bekannten ausgerechnet sie – mich interessiert. Doktor Dölling wird maßvoll bleiben und sich nicht einmischen, das hätte ich mir auch verbeten. Obwohl – warum würde ich sonst zu ihr gehen? Sie, Gertrud Born, wüßte ja sicher, wie man auszusehen hat, um »der Gestaltung« wert zu sein, so würde sie sich wohl ausdrücken. Wenn sie sich erheben, hinter ihrem Schreibtisch hervorkommen könnte, ihre Festung verlassen – die paar Schritte durch das Zimmer zu der Sesselgruppe am Fenster könnten genügen, sich wieder in sie einzuleben. Die dort geht, ist Frau Doktor Dölling, eine gut angezogene, gepflegte Frau, kein Mensch, der aus der Fülle schöpfen kann, aber einer, der das Pfund nicht verkommen läßt, das ihm gegeben ist. Was es sie gekostet hat, die blasse, unscheinbare Gertrud Born loszuwerden, ihre Schüchternheit zu unterdrücken, so gehen zu lernen, wie sie es jetzt kann, das weiß nur sie, und sie will nicht, daß sonst irgend jemand es erfährt. Das würde ich, während ich mich ihr gegenüber setzte, zu respektieren haben. Christa T. also. Gertrud Dölling wird eine Abwehrhaltung einnehmen, und ich werde nicht wissen, warum, werde mich aber verwünschen, daß ich hierhergekommen bin.
Sie war, wird sie sagen, anders als andere. Aber das weißt du ja. Von Einordnung hat sie nicht viel gehalten. Gleichmäßig gearbeitet hat sie nie – sie konnte es nicht.
Und du, Gertrud, diszipliniert wie nur einer, hast die Last damit gehabt, doch nie hat einer dich klagen hören.Sie war merkwürdig, würde Gertrud Dölling sagen. Und ich müßte sie lange auffordernd ansehen, bis sie das Wort herausrückte: Ich möchte sagen, sie war – gefährdet. Das Wort lasse ich sich zerstreuen, es gehört nicht in diesen Raum und vergeht schnell.
Ich möchte sagen – das hast du schon immer gesagt, erinnere ich Gertrud Dölling. Sie lacht und legt die Fingerspitzen aneinander, das tat schon Gertrud Born, wenn sie verlegen war.
Wodurch gefährdet?
Doktor Dölling ist gewöhnt, schnell und genau nachzudenken und das Ergebnis ihres Denkens zu formulieren. Jetzt mag sie zögern.
Durch ihre Vorstellungskraft, wird sie dann vielleicht sagen, nicht recht zufrieden mit sich. Sie war – ausschweifend. Sie hat es nicht fertiggebracht, die Grenzen anzuerkennen, die jedem nun einmal gesetzt sind. Sie verlor sich in jede Sache, du konntest drauf warten. Manchmal konnte man denken, das ganze Studium, der ganze Bücherkram gingen sie eigentlich nichts an, sie war auf was andres aus. Und das, weißt du, war fast – verletzend.
Sie blickte mich schnell an. Das wird der Augenblick sein, da ich die Lider senke, nehme ich an, denn daß ich mein eigenes Empfinden ruhig von ihr ausgedrückt hören kann, ist nicht denkbar.
Gertrud Born ist immer schnell errötet, sie steht auf und tritt ans Fenster. Ich aber begreife endlich die Rolle, die Christa T. in
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