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Nachdenken ueber Christa T.

Nachdenken ueber Christa T.

Titel: Nachdenken ueber Christa T. Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christa Wolf
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mir vor, sie wäre lange weggewesen und müsse sich sehr verändert haben.
    Schließlich zog sie sich einen Mantel über und ging mit mir hinaus auf den Gang. Wir standen am Fenster, ich weiß noch, wir sprachen über die Frau, die neben Christa T. lag, eine Straßenbahnschaffnerin.
    Sie verstehen nicht, was mit ihnen geschieht, sagte Christa T., und ich wollte, daß sie ungeduldiger wäre, wenn es ihr schon nicht gelang, die Resignation der jungen Frau, ihre müde Hingabe an die Leiden, die der Mann ihr zufügte, zu brechen. Für uns stand außer Frage, daß es ihre Aufgabe war, das zu versuchen, denn wir fühlten uns an ein Versprechen gebunden, das wir in Wirklichkeit niemals gegeben hatten, aber es war stärker als irgendein Schwur, den man tatsächlich abgibt:Allen soll geholfen werden, gleich. Dann sieht man diese Frau da liegen, der nicht zu helfen ist, und kommt sich wortbrüchig vor.
    Sie wissen auch nicht, daß sie nichts verstehen, fügte Christa T. hinzu, und wenn sie Zeitung liest, kommt sie gar nicht auf die Idee, daß da von ihr die Rede ist. Bring’s ihr bei, sagte ich. Es kam uns wie eine Probe vor, ob es gelang, diese Straßenbahnschaffnerin wachzurütteln, daß sie sich ihr Recht nahm, ihr gutes Recht.
    Er schlägt sie, sagte Christa T., er vergewaltigt sie, jetzt hat sie die dritte Abtreibung gemacht.
    Zeig ihn an, sagte ich.
    Sie bestreitet alles, das hat sie mir angekündigt. Sie spricht kein Wort mehr mit mir, wenn ich davon anfange.
    Wir begannen uns zu streiten. Am Ende mußte ich einsehen, daß ohne die Frau nichts zu machen war. Daß sie in dem Leben hängenbleiben würde, das sie schon mit auf die Welt gebracht hatte, daß sie Gefährten hatte, denen all unsere ganze Ungeduld nichts nützte. Wir waren beide erbittert, als hätten wir uns das gegenseitig zum Vorwurf zu machen. Ich weiß heute, daß diese Art von Erbitterung nicht vergeht und daß wir sie immer noch teilen würden. Damals schien sie uns zu trennen, wir mißverstanden uns.
    Wir standen am Fenster, am Ende des langen Krankenhausganges, wir hatten alles gesagt und blickten stumm hinaus. Da fegte mit einem schnellen Windstoß ein großer Krähenschwarm über den Himmel, dann noch einer und noch einer, Hunderte von Krähen, die alle auf einmal einen Schrei ausstießen, so kam es uns vor. Eben sind dieselben Krähenzüge über denselben Himmel gestoben,da stieg der ganze Nachmittag wieder auf: der dürftige Krankenhausflur, das hohe, schmale Fenster, unser Streit, unsere gemeinsame Erbitterung. Und die Gewißheit, daß sie sich die Fähigkeit, erbittert zu sein, bewahrt hätte.
    Das ist mein Grund, über sie zu sprechen. Erbitterung, aus Leidenschaft. Kam das Wort schon vor? Wird es befremden? Komisch wirken? Altmodisch? Wird man es mit einem solchen Krankenhausflur verbinden wollen, mit Hörsälen, Arbeitsgruppen auf Trümmerfeldern, heftigen Diskussionen, Gesprächen, Reden, Büchern? Oder wird man uns immer noch glauben machen wollen, auf ewig sei Leidenschaft mit jenem ehrsüchtigen Offizier verbunden, der im Duell fällt, oder mit dem Aufstieg und Fall von Monarchen und Führern?
    Das Anfangsgefühl, das geliebt wird. Die einzige Unruhe, man könnte dieser allgemeinen Leidenschaft nicht gewachsen sein. Christa T. hatte mit uns das Glück, in dem Alter, in dem man mit Leidenschaften rechnet, gezwungen zu werden, sich selbst hervorzubringen. Das kann dann der Maßstab bleiben, andere Reize werden schal sein; wenn jemand, die Cousine zum Beispiel, ihr vorhält, der Mensch sei käuflich, kann sie nur die Augenbrauen hochziehen, was sehr arrogant aussieht. Es kam eine Nacht, die ungewöhnlich finster war. Zufällig saßen wir zusammen und hörten aus allen westlichen Rundfunkstationen neben den Berichten über Kämpfe in Budapest das große, kaum unterdrückte Hohngelächter über das Scheitern dessen, was sie »Utopie« nannten.
    Jetzt denkt die Cousine, sie hat recht behalten, sagte Christa T.
    Wir wußten ja selbst nicht, was das für eine Nacht war, wir haben Jahre gebraucht, es zu wissen. Nur daß die Kämpfe der Alten auf einmal unsere Kämpfe wurden, das fühlten wir gleich, mit großer Deutlichkeit. Und daß sie uns nicht gestatten würden, in die Rolle der Betrogenen zurückzuweichen. Doch auch die Rolle der eisern Gläubigen war abgesetzt, die Bühne, auf der man solche Rollen spielte, war verdunkelt. Ja, ein plötzlicher Lichtwechsel hatte stattgefunden, vorausgesehen hatten wir ihn nicht. Erst später fragten wir uns:

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