Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Nachdenken ueber Christa T.

Nachdenken ueber Christa T.

Titel: Nachdenken ueber Christa T. Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christa Wolf
Vom Netzwerk:
muß sie ins Krankenhaus, ein Leiden ist wieder aktiv geworden, der Arzt sagt, das bringe das Kind mit sich, aber das Kind könne es auch ganz und gar wegnehmen. Ein Wunderkind, sagt sie zu Justus, der wieder zu seiner Praktikumsstelle muß.
    Wirst du mir auch schreiben?
    Aber sie kann ihm nicht schreiben, weil sie nicht aushält, so stark an ihn zu denken, sie hat es in das braune Büchlein geschrieben, wahrscheinlich weiß er bis heutenicht, warum er nie Briefe von ihr bekam. Als ich sie wiedersah, lag sie schon in ihrem Bett in der CharitØ, halb schuldbewußt, halb verärgert, jedenfalls verheiratet und im Begriff, ein Kind zu bekommen. Sie las den Zauberberg und gab sich Mühe, selbst in eine ungegliederte Zauberberg-Zeit zu versinken, sonst kann man’s gar nicht aushalten, sagt sie.
    Ich fragte nicht, was sie nicht aushalten konnte. Die sieben Jahre ihrer Ehe waren sie selten getrennt, zwei, drei Briefe an ihn, die sie nicht abgeschickt hatte, hat Justus mir mit ihren übrigen Papieren übergeben. Sie sind aus einer späteren Zeit. Er hat sie nie gelesen und gab sie mir, als stünde es mir zu, sie zuerst zu lesen. Aber vielleicht steht es mir nun zu. Ich las sie und fand, daß sie nüchterner geworden war. Dann las ich sie wieder und verwunderte mich über meine Blindheit; denn plötzlich trat wie die Farbe auf alten Bildern bei einem ganz bestimmten Licht deutlich ihre Schüchternheit aus den alten Briefen hervor. Ich möchte Justus fragen, ob er wußte, daß sie vor ihm schüchtern war. Aber er wird es nicht wissen, ich werde nicht fragen, werde auch nicht weiter darüber nachdenken, woher die Schüchternheit kam und dieser werbende Unterton in ihren Briefen; denn daß ein Gefühl, noch dazu ein so zusammengesetztes wie das, was wir »Liebe« nennen, sich selbst immer gleichbleiben soll, kann nur einer glauben, der seine Gefühle aus schlechter Literatur bezieht, und zu wünschen wäre es gewiß nicht. Allmählich muß sie in den Jahren verlernt haben, große Rücksicht auf sich selbst zu nehmen, so klingen jedenfalls die Briefe. Am Ende – ich meine das wirkliche Ende – ist auch keine Rede mehr davon, daß sie, um sich keinen Schmerzzuzufügen, eine Nachricht verweigert, die irgendwo erwartet wird. Sie schreibt noch Briefe aus dem Krankenhaus, auch jene beiden an ihre Kinder.
    Versprechungen, von denen sie weiß, daß sie sie nicht einlösen wird.

15
    Da ich auf einmal bemerke, was andere – vielleicht – an ihr übersehen haben, ihre Schüchternheit zum Beispiel, muß ich mich natürlich fragen, was ich an ihr niemals gesehen haben mag und niemals werde sehen können, weil meine Augen nicht darauf eingestellt sind. Denn Sehen hat mit einem herzhaften Entschluß nicht viel zu tun. So will ich denn auf der Suche nach dem Übersehenen noch einmal zu ihr ins Krankenhaus gehen, an jenem Sonntag im Herbst ihres Hochzeitsjahres. Ich habe Ursache, diesen Gang zu wiederholen, weil ich nie bei ihr war, als sie wirklich krank lag. Das klingt wie ein Selbstvorwurf, und es ist einer, aber ich hatte gute Gründe, wie jedermann gute Gründe hat. Mein bester Grund war, daß ich ihr ihren Ernst nicht glauben konnte.
    Es war ein Septembertag wie der heutige, gleichzeitig heiß und mild. Ich zog meine Jacke aus und nahm sie über den Arm, als ich vom Bahnhof Friedrichstraße die Luisenstraße hochging, die mir endlos vorkam. Erst im Klinikgelände, nachdem ich mich schon verirrt hatte, fiel mir ein, nach dem Himmel zu sehen. Er war, wie heute, zart verschleiert, und ich muß dasselbe denken, was ich damals dachte, oder ohne Worte dafür zusuchen, empfand: einen scharfen Schmerz, weil dieses blasse, vertraute Blau, das nur für uns erdacht, nur uns zu gehören schien, schon auf alten Bildern vorkommt, denen ich nichts nachfühle als nur dieses Blau. Eine Empörung darüber, daß es in hundert Jahren, lange nach uns, unbeteiligt und unverändert, durch eine gewisse Jahreszeit, durch einen gewissen Lichteinfall wieder erzeugt werden würde.
    Diese Vorstellung verletzte mich, wie mich auf einmal das häßliche Rot der Klinikmauern verletzte und der nackte Hall meiner Schritte auf den ausgetretenen Stufen. Ich fühlte voraus, daß mich auch ihr Anblick verletzen würde. Da lag sie denn auch im letzten Bett einer langen Reihe, und auf der anderen Seite des Ganges standen genauso viele Betten, es müssen an die zwanzig gewesen sein. Das war kein Ort für ein Wiedersehen nach langer Zeit, denn wie ich sie da liegen sah, kam

Weitere Kostenlose Bücher