Nachhaltig tot (German Edition)
nimmst? Es ist ja schön, dass der Dorfpolizist jeden im Ort kennt und auch mit den privaten Verhältnissen bestens vertraut ist. Doch du lässt sehr oft Gnade vor Recht ergehen – zu oft, wie ich finde.“
Willen blieb ihr eine Antwort schuldig. Stattdessen sah die junge Polizistin in zwei verdutzte Augen und dachte, als sie sich wieder hinter die Radarpistole stellte, was der Kollege doch für ein seltsamer Bursche war. Sie hatte bereits in den ersten Tagen ihres Praktikums bemerkt, dass Polizeimeister Hendrik Willen kein Mann vieler Worte war. Small Talk war nicht sein Ding. Seine Sätze waren kurz und präzise. Nie sagte er mehr als nötig.
Das Messgerät piepte erneut und riss die junge Polizistin aus ihren Gedanken. Hendrik Willen hob zum Gruß die Hand, als der Geländewagen an ihnen vorbeischoss.
„Überprüf noch mal die Toleranz, Anja!“
Anja Krause lächelte still in sich hinein. In ihren Augen war Hendrik der Urtypus des unbedarften Polizisten, der bei Falschparkern und Temposündern gern mal ein Auge zudrückte und ansonsten lieber eine ruhige Kugel schob. Nicht zu viel Aufregung im Revier – das war seine Devise. Allerdings war Willen der Typ Dorf-Cop, der über sich hinauswuchs, sobald es die Situation erforderte. Es gehörte wohl zu seiner Taktik, dass man ihn oft unterschätzte.
Zu dieser Meinung kam die junge Kommissaranwärterin, als Willen ihr einmal von dem ersten richtigen Mordfall in Molbergen berichtete. Es war noch gar nicht so lange her, dass man in der Molberger Dose eine Leiche gefunden hatte, die im Torf vergraben war. Hendrik war wider Willen in die Rolle des Mordermittlers geschlüpft, die Kripo hatte um seine Unterstützung gebeten. Im Zuge der Ermittlungen musste er sogar von seiner Schusswaffe Gebrauch machen und seiner Kripo-Kollegin das Leben retten.
Irgendwie bewunderte Anja ihn aber auch. Hendrik hatte eine besondere Art, mit den Dingen umzugehen. Dieser jungenhaft wirkende Mann mit naiver, geradezu fügsam klingender Stimme konnte einen Verbrecher auf stille Weise zu Fall bringen. Das machte ihm so schnell keiner nach. Und das machte ihn für Anja Krause sympathisch.
Hendrik Willen rückte sich mit strenger Miene die Uniformmütze zurecht, als sein Handy die Tatort-Melodie spielte.
„Ja, Willen … Ach Helge, alter Rübenzüchter, was gibt’s Neues im Landkreis?“
Willen wandte sich von der Fahrbahn ab, um ungestört telefonieren zu können. Das Gespräch dauerte eine Weile. Als der Beamte zurückkam, gab er seiner Kollegin Anweisung, die Geschwindigkeitsüberwachung zu beenden. Sie hätten eine weitaus wichtigere Aufgabe zu lösen.
„Das war Helge Otten, ein alter Schulfreund.“
„Ist der Vater, Thies Otten, nicht der große Milchbauer hier in Molbergen?“, erkundigte sich Anja Krause.
„Genau“, bestätigte Willen. „Sein Alter hat einen Drohbrief erhalten und Helge bittet mich um Hilfe.“
Anja Krause nickte. Rasch bauten sie die Radarpistole ab, verstauten das Gerät im Dienstwagen und machten sich auf den kurzen Weg zu Bauer Otten.
Helge Otten kam gerade aus dem Kuhstall, als der Polizeiwagen auf den Hof fuhr. Während der Polizeikommissar den Wagen abstellte, verschwand der Jungbauer im Haus und kam kurze Zeit später mit dem an seinen Vater adressierten Drohbrief zurück. Nach einer kurzen Begrüßung betrachtete Hendrik Willen den Zettel und reichte ihn beinah uninteressiert weiter an seine Kollegin. Er bemerkte, dass Thies Otten hinter der Gardine des Küchenfensters stand und ihn beobachtete.
„Hat er Angst?“, fragte Hendrik seinen alten Kameraden.
„Klar hat er Angst“, antwortete dieser und fügte hinzu: „Wirst du uns helfen, Hendrik?“
Hendrik Willen wartete mit seiner Antwort. Die Sache von damals kam ihm wieder in Erinnerung und verursachte ein bedrückendes Gefühl im Magen. Er musste blinzeln, als die Sonne ihm grell ins Gesicht schien.
„Mhm.“ Der Polizist nickte mürrisch.
Helge Otten wandte den Blick zu seinem Vater am Küchenfenster und hob den Daumen seiner rechten Hand. Der alte Bauer verschwand daraufhin hinter der Gardine. Anja Krause, die die Szene die ganze Zeit aufmerksam verfolgt hatte, nahm vor allem das Nichtgesagte in dieser Situation wahr. Irgendwie schien die Beziehung zwischen Hendrik Willen und Thies Otten belastet zu sein. Sie blieb diskret und hakte nicht weiter nach. Dennoch schaltete sie sich jetzt in das Gespräch ein:
„Ich dachte, Sie wären Milchbauern, Herr Otten.“
„Das sind wir.
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